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Märchenerzähler

Märchenerzähler

Titel: Märchenerzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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auf seinem schwarzen Pullover. Seine Augen waren blau.
    Anna wusste nichts über ihn, nur dass er nach der Zehnten hergekommen war, ein Quereinsteiger von der Realschule. Im Moment fiel ihr nicht einmal sein Vorname ein. Sie war ganz allein mit ihm. Es war sehr still. Und auf einmal hatte sie Angst. Ihre Hände krallten sich um die Puppe.
    Er räusperte sich. Und dann sagte er etwas, das Anna nicht erwartet hatte.
    Er sagte: »Sei vorsichtig mit ihr.«
    »Wie?«, fragte Anna, perplex.
    »Du hältst sie zu fest. Sei vorsichtig mit ihr«, wiederholte Tannatek.
    Anna sah auf ihre Hände, die noch immer in den Stoff gekrallt waren, begriff und ließ die Puppe los. Sie fiel auf den Fußboden. Tannatek schüttelte den Kopf. Dann stand er auf, kam auf Anna zu – sie saß ganz steif da, versteinert, gefroren – und bückte sich nach der Puppe. Er hob sie auf und trat einen Schritt zurück.
    »Ich war es«, sagte er. »Ich habe sie verloren. Verstehst du?«
    »Nein«, sagte Anna ehrlich.
    Er schüttelte wieder den Kopf. »Natürlich nicht.«
    Tannatek sah die Puppe einen Moment lang an, er hielt sie wie etwas Lebendiges. Dann setzte er sich wieder auf die Heizung, bückte sich nach seinem Rucksack, der dort stand, und legte sie hinein, oben auf die Bücher und Ordner. Dann setzte er sich wieder auf die Heizung, holte eine einzelne Zigarette aus der Tasche, erinnerte sich offenbar, dass er hier nicht rauchen durfte, zuckte die Achseln und steckte die Zigarette wieder ein.
    »Tja«, sagte Anna, und ihre Stimme klang noch immer zu ängstlich. Sie stand vom Sofa auf. »Tja, wenn die Puppe wirklich dir gehört … dann ist ja alles in Ordnung. Dann kann ich ja jetzt gehen. Ich hab heute nichts mehr. Keine Kurse.«
    Tannatek nickte. Doch Anna ging nicht. Sie stand mitten im Raum, als hielte etwas sie dort fest, und dieser Moment gehörte zu denen, die sie später nicht erklären konnte, sich selbst nicht und auch niemand anderem. Was geschah, geschah einfach.
    Sie blieb so lange stehen, bis er etwas sagen musste, und er sagte: »Danke.«
    »Danke wofür?«, fragte sie. Sie wollte eine Erklärung. Irgendeine.
    »Danke, dass du sie gefunden hast«, sagte er und nickte zu seinem Rucksack hin, aus dem Anna eine Stoffhand der Puppe lugen sah.
    »Ja, hm, oh, bitte«, sagte Anna. »Ich …«
    Sie schüttelte den Kopf über sich selbst und versuchte, ein Lachen hervorzuholen, ein kleines, belangloses Lachen, mit dem man ein Gespräch rettet, das zu versiegen droht, ehe es begonnen hat.
    »Du siehst aus, als wolltest du eine Bank überfallen«, sagte sie und, als er sie verständnislos ansah: »Mit der Mütze, meine ich.«
    »Es ist kalt«, sagte er.
    »Hier drin?«, fragte Anna und fand neben dem versiegten Lachen noch so etwas wie ein Lächeln, obwohl sie nicht wusste, ob es überzeugend aussah.
    Er sah sie noch immer an. Und dann nahm er die schwarze Wollmütze ab, ganz langsam, wie ein Ritual. Sein Haar war blond und durcheinander. Anna hatte vergessen, dass es blond war. Er trug dieMütze seit einer Weile – einer Woche? Zwei? Von Zeit zu Zeit kam er mit einem Drei-Millimeter-Schnitt zur Schule, aber jetzt reichte sein Haar bis fast über die Ohren.
    »Die Puppe, ich dachte … ich dachte, sie gehört einem kleinen Mädchen …«, begann Anna.
    Er nickte. »Sie gehört einem kleinen Mädchen.« Und plötzlich war er es, der lächelte. »Was dachtest du? Dass sie mir gehört?«
    In dem Moment, in dem er lächelte, fiel Anna sein Vorname ein. Abel. Abel Tannatek. Sie hatte ihn in irgendeiner Liste gesehen, im letzten Jahr.
    »Wem gehört sie denn?«, fragte Anna, die Großinquisitorin Anna Leemann, dachte Anna, die zu viele Fragen stellte, hartnäckig, neugierig.
    »Ich habe eine Schwester«, sagte Abel. »Sie ist sechs.«
    »Und warum …« Warum trägst du ihre Puppe mit dir herum? Warum verlierst du sie unter dem Kollegstufensofa?, wollte die Großinquisitorin Anna Leemann fragen. Doch dann ließ sie es. Großinquisitoren sind nicht sehr sympathisch.
    »Micha«, sagte Abel. »Sie heißt Micha. Sie wird sich freuen, dass die Puppe wieder da ist.«
    Er sah auf die Uhr, stand auf und schulterte den Rucksack.
    »Ich muss los.«
    »Ja, ich … ich eigentlich auch«, sagte Anna rasch. Sie traten nebeneinander in den blauen, kalten Tag und Abel sagte: »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich meine Mütze wieder aufsetze?«
    An den Bäumen glänzte der Raureif jetzt so hell, dass man die Augen zusammenkneifen musste, und die Sonne

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