Märchenkranz für Kinder - Märchen der Welt ; 67
Für die erwachsenern Kinder habe ich eine eigene Sammlung, gleichzeitig mit diesem Werkchen, herausgegeben, unter dem Titel: »Lehrreiche und unterhaltende Mährchen für die erwachsenere Jugend u.s.w.« Berlin, bei J. G. Hasselberg.
1. Frau Holle.
Eine Mutter hatte zwei Töchter, davon hieß die eine Liese, und wiewohl sie faul, ungeschickt und schmutzig war, so war sie dennoch der Liebling der Mutter, welche sie so sehr verzärtelte, daß sie keinen Finger ins Wasser stecken durfte. Die andere hieß Gretchen, und wiewohl diese fleißig, reinlich, ordentlich und gefällig war, so konnte ihre Mutter sie doch wenig leiden. Darum wurden alle schweren Arbeiten ihr aufgelegt, und während die faule Liese noch im Bette lag, mußte Gretchen schon die Stube auskehren, einheitzen und das Frühstück besorgen.
Einmal, als Gretchen so an den Brunnen ging, um Wasser in die Küche zu holen, fiel sie hinein, und ertrank. Da war ihr, als wenn jemand einschläft. Als sie aber erwachte, so befand sie sich im Reiche der Frau Holle, welches zwischen dem Himmel und den Wolken ist. Hier stand sie auf einer schönen Wiese, wo viel tausend Blumen blühten, und Schmetterlinge flogen, und die Sonne viel heller schien, als bei uns auf der Erde.
Gretchen ging die Wiese entlang, und kam in den Obst- und Küchengarten der Frau Holle. Hier stand nicht weit vom Fußsteige ein Backofen, worin Brot gebacken wurde, und sie hörte die Brote zischen:
Wer kommt, uns zu holen!
Sonst brennen wir zu Kohlen!
»Gleich werde ich euch herausziehen!« sagte Gretchen, und trat an den Backofen. Geschickt langte sie die Brote hervor, und legte sie auf ein Brett, welches daneben lag. Dann ging sie weiter, und ihr Weg führte sie zu einem Pflaumenbaume, unter welchem viele Früchte unaufgelesen im Grase umherlagen. Diese aber riefen:
Werden wir nicht aufgenommen,
So müssen wir umkommen!
»Gleich werde ich euch auflesen!« sagte Gretchen, sammelte die Pflaumen in ein Körbchen, das sie unter dem Baume stehen sah, und ging weiter. Da kam sie in den Blumengarten der Frau Holle, und sah zwei schöne Nelken auf dem Beete am Wege stehen, die ließen betrübt ihre Köpfchen hangen, denn sie hatten lange keinen Regen gehabt, und klagten:
Wer kommt, uns zu sprengen!
Sonst wird uns die Sonne versengen!
»Gleich werde ich euch begießen!« rief Gretchen, und nahm eine kleine Gießkanne, welche dabei stand, damit lief sie an den Bach, und besprengte die welkgewordenen Nelken.
Hierauf ging sie weiter, und sah mitten unter Rosengebüsch und schattigen Linden ein freundliches Haus stehen, welches die Wohnung der Frau Holle war. Da die Thüre offen stand, dachte sie: Du mußt doch einmal hineingehen, und sehen, ob da Einer wohnt? Sie trat auf den Hausflur, und rief, ob jemand da wäre? Da sie aber niemanden sah, auch keine Antwort erhielt, so ging sie weiter vorwärts in die Küche. Auch hier war kein lebendiges Wesen zu sehen oder zu hören. Mit klopfendem Herzen ging sie in die Wohnstube, auch die war leer; dann in die Schlafstube – nirgend eine Seele! Daraus schloß sie, daß die Hausfrau ausgegangen seyn müßte, und zwar gleich früh Morgens: denn Stube und Kammer waren noch nicht gekehrt, das Bett nicht gemacht, der Tisch nicht abgewischt. Da dachte Gretchen: Du willst aufräumen! Sie machte das Bett, kehrte die Stube aus, stäubte den Tisch ab, und wusch das Geschirr.
Als sie fertig war, fand sie ein Strickzeug. Das nahm sie in die Hand, und setzte sich damit mäuschenstill in eine Ecke der Kammer neben dem Bette. Mittlerweile kam die Frau Holle nach Hause, und wunderte sich des Todes, daß das ganze Haus in Ordnung gebracht, das Geschirr gewaschen, und die Stuben gekehrt waren. Sie sah aber niemand, bis sie auch in die Kammer trat, und da, neben dem gemachten Bette, das schüchterne Gretchen mit ihrem Strickzeuge sitzen sah.
»Wer bist Du, Kind? Hast Du mir etwa das Haus so schön in Ordnung gebracht?« fragte Frau Holle. Weil sie nun dabei ganz freundlich aussah, auch sonst ein zutrauliches Wesen hatte, außer daß ihr ein großer Zahn aus dem Munde vorstand, so faßte sich Gretchen ein Herz, und erzählte ihr Alles, wie sie in den Brunnen gefallen und ertrunken, dann aber wieder zu sich selbst gekommen sey, und sich in diesem fremden Garten befunden habe. Sie bat dabei die Frau Holle, sie freundlich in ihr Haus aufzunehmen, sie wolle ihr gut thun, und artig
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