Märchenmord
Mopeds, das Aufheulen der Motoren, das Geschrei der Jugendlichen, die eng umschlungen auf der Straße liefen, ohne auf das Hupen der Autos zu achten. Eine typische Sommernacht in Paris, die versprach, das Leben zu genießen. Vor der Haustür sagte Gina: »Du kannst mit mir kommen. Mein Großvater hat versprochen, dass er uns hilft. Er lässt dich nicht im Stich und meine Mutter auch nicht.« Und in demselben Moment wusste Gina, dass das die Wahrheit war. Ihre Mutter mochte chaotisch sein, unzuverlässig und auf einem Selbstfindungstrip, der schlimmer war als Drogen, vielleicht war sie auch gerade dabei, sich in den falschen Mann zu verlieben, aber sie würde Najah helfen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. »Aber ich muss Monsieur Saïd Bescheid sagen. Er macht sich sonst Sorgen. Er war dagegen, dass ich zurück in die Wohnung gehe, als ich ihm erklärte, ich müsse die Briefe holen.« Sie wandten sich nach rechts. Der Laden lag in völligem Dunkel. Najah klopfte. Nichts rührte sich. »Vielleicht schläft er schon«, sagte Gina. Najah schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Er geht nicht vor Mitternacht ins Bett. Nicht bevor er sein Nachtgebet verrichtet hat. Und das betet er erst, wenn alle Sterne am Himmel stehen.« Gina sah zum Nachthimmel, an dem dunkle Wolken entlangzogen. Was war, wenn gar keine Sterne auftauchten? Fiel das Gebet dann aus? Doch jetzt war nicht die Zeit, danach zu fragen. »Vielleicht ist er im Lager«, hörte sie Najah. »Lass uns nach hinten gehen.«
Sie schlichen einen engen dunklen Gang entlang, der zwischen dem Gemüseladen und dem Haus Nr. dreizehn durchführte. In diesem Moment gab eine Wolke den Blick auf den Vollmond frei, der ihnen für einen kurzen Augenblick den Weg leuchtete.
*
Der Eingang zum Lager war ganz und gar in Finsternis eingehüllt. Wieder klopfte Najah, aber Monsieur Saïd hörte sie nicht oder wollte sie nicht hören, ebenso wie er Noah in der Nacht zuvor vor der Tür hatte stehen lassen. »Das verstehe ich nicht«, wunderte sich Najah. »Ich bin doch höchstens eine halbe Stunde weg gewesen. Warum macht er nicht auf?« »Lass uns gehen«, drängte Gina. »Meine Mutter ist sicher schon zu Hause. Sie wird Monsieur Saïd anrufen und ihm sagen, dass es dir gut geht.« »Nein.« Najah schüttelte entschieden den Kopf. »Er hat mir geholfen. Ich muss mich wenigstens von ihm verabschieden. Wir können über den Dachboden. Es gibt eine Leiter, die nach oben führt.« Erneut folgte Gina Najah im Dunkeln und bereute es, als sie über eine leere Obstkiste stolperte. Etwas huschte den Boden entlang. »Was war das?« »Nur eine Ratte«, flüsterte Najah. »Sei leise. Sie tut dir nichts.« »Eine Ratte? Hier gibt es Ratten? Ach du Scheiße!« »Ratten gibt es überall, die sind nicht so gefährlich wie Karim. Also warum hast du Angst? Du hast heute schließlich sogar einen gemeinen Verbrecher reingelegt.« Plötzlich konnte Gina Najah im Dunkeln nicht mehr erkennen. Vom Lärm der Straße war kaum etwas zu hören. Es herrschte eine unheimlich Stille, bis wieder etwas in einer Ecke raschelte . Gina schreckte zusammen . »Wo bist du? Ich sehe nichts. « »Hier auf der Leiter«, flüsterte Najah vor ihr . Gina streckte die Hand aus und fasste an das kalte Holz. Langsam folgte sie Najah, die sich leise wie eine Katze bewegte, Stuf e für Stufe. Die Tritte knarrten, und das erinnerte Gina an etwas : »Als ich neulich mit Noah hier unten gesprochen habe, warst d u da oben? Hast du uns belauscht? « »Was sollte ich machen? Ich konnte ja nicht einfach vor euc h auftauchen und sagen: ›Hallo, hier bin ich.‹ « »Es hätte uns viel Ärger erspart. « »Ich kannte dich doch gar nicht. Für mich warst du nur da s Mädchen am anderen Fenster.« Najah brach ab. »Ich bin oben . Nimm meine Hand. « Gina ließ sich nach oben ziehen und fühlte endlich wieder festen Boden unter ihren Füßen. Auf dem Dachboden roch es nac h frischem Obst und Gemüse. In der Dunkelheit war der Geruch s o intensiv, dass Gina automatisch das Wasser im Mund zusammenlief . »Da unten brennt Licht«, sagte sie, »Monsieur Saïd muss also… « »Psst.« Sie spürte, dass Najah ihren Arm festhielt . »Was denn? « »Hörst du das nicht?« Das war kein Flüstern mehr, das war nu r noch ein unmerkliches Raunen. »Doch unten ist jemand«, wisperte Najah . Ginas Herz begann nun, laut zu schlagen, als ob es einen Prei s im Wetttrommeln gewinnen wollte. »Monsieur Saïd? « »Ich weiß nicht, aber wenn mich
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