Märchenmord
Stockwerk darüber räumte die Frau in ihrem blau-weiß karierten Bademantel Geschirr in den Schrank, während im fünften Stock die beiden Mädchen in Schlafanzügen vor dem Fernseher schliefen, in dem Bambi lief . Und die Wohnung im vierten Stock ? Was war das? War sie wieder in der Nacht vor zwei Tagen? Zurück in die Zukunft. Teil, was weiß ich? Jedenfalls waren di e Fenster nicht länger mit Karton verklebt, sondern Glasscheibe n saßen in den Rahmen. Als hätte sich nichts verändert. Als hätt e es kein Feuer gegeben . Gina konnte es nur erkennen, weil im hinteren Teil des Raume s ein schwaches Licht aufleuchtete, in dem sich ein Schatten abzeichnete . Fing alles wieder von vorne an ?
War sie in einer Zeitschleife, in der sich ihr Leben wiederholte? Immer und immer wieder?
O. k., Gina, die einfachste Erklärung ist, dass du noch imme r träumst. Wechsle einfach das Programm, schalte um. Setz dic h auf den Teppich und mach dich aus dem Staub . Ginas Augen starrten auf das Haus gegenüber. Verzweifelt versuchte sie, etwas zu erkennen . Karim ? Für einen Moment erschien ein Gesicht am Fenster und schaut e auf die Straße. Es war jung. Dort drüben stand kein Mann, sondern ein Junge . Noah ? Nein, die Gestalt hatte kürzere Haare . Also wer dann? Wer konnte dort drüben am Fenster stehen? Di e Erkenntnis kam überraschend. Sie war der Paukenschlag in de r Oper . Julien ! Nur er konnte das sein. Wer sonst? Er suchte nach Najah. Er wa r nach Paris gekommen, um sie zu sehen. Aber er wusste nicht , dass sie tot war. Er würde sie dort drüben nicht finden. Und di e Schlussfolgerung war klar. Gina musste es ihm sagen. Sie musste hinübergehen und mit ihm reden . Mann, dagegen war so eine Oper so langweilig wie die Ewigkeit . Ein dumpfes Gefühl sagte ihr, dass sie nicht gehen sollte . Schließlich hatte sie ihrem Großvater versprochen, dass sie hie r auf ihre Mutter warten würde. Aber da hatte sie doch nicht damit rechnen können, dass Julien auftauchte . Ohne weiter zu überlegen, ob es richtig war oder falsch, rannt e Gina in den Flur und zog ihre Schuhe an . Die Wohnungstür fiel hinter ihr ins Schloss . Außerdem, es würde nicht lange dauern, dann war sie wiede r zurück. Länger als fünf Minuten würde sie nicht brauchen. Sie würde hinüberrennen, Julien erzählen, was sie wusste, und in die Wohnung zurückkehren.
Ginas Finger lag auf dem Klingelknopf. Sie erschrak selbst, als sie den schrillen Klingelton hörte. In der Wohnung rührte sich nichts. Klar. Warum sollte Julien öffnen? Er hatte sich schließlich ohne Erlaubnis Zugang zu der Wohnung verschafft. Der Teppichhändler in Marrakesch wäre sicher nicht erfreut, wenn er wüsste, dass in seiner Wohnung Fremde ein und aus gingen. Wahrscheinlich stand Julien hinter der Tür und hatte dieselbe Panik wie sie neulich, als Karim plötzlich aufgetaucht war. Das Fenster zur Küche fiel ihr wieder ein. So könnte sie in die Wohnung gelangen. Natürlich würde Julien einen totalen Schock bekommen, wenn sie plötzlich vor ihm stand, aber das würde er schon überleben. Und wenn Gina ehrlich war, so wollte sie ihn unbedingt kennenlernen, den Jungen, der in diesem Liebesdrama den Romeo spielte. Gina rannte den Weg zurück und gelangte, ohne jemandem zu begegnen, über die Hintertreppe zum Küchenfenster, das tatsächlich nicht geschlossen war. Als sie dagegen drückte, gab es sofort nach. Sie zog sich nach oben, zwängte sich durch die Öffnung. Das Licht vom Treppenhaus fiel in die Küche, sodass sie sich orientieren konnte. Im Halbdunkel schlich sie zur Tür und horchte. Tatsächlich, jemand war im Flur und bewegte sich leise. Gina konnte Schritte hören. Dann ein schleifendes Geräusch. Etwas wurde zur Seite gezogen. Vorsichtig drückte sie den Türgriff nach unten und schob die Küchentür einen Spalt auf. Im Flur war es dunkel bis auf den Lichtkegel einer Taschenlampe. Jemand stand mit dem Rücken zu ihr. Eine schmale Gestalt, kaum größer als sie, kniete auf dem Boden und machte sich an den Holzdielen zu schaffen. War das wirklich Julien? Oder ein Dieb, der von dem Brand und der leer stehenden Wohnung eines reichen Teppichhändlers gehört hatte? Vielleicht dachte er, er könnte die Teppiche mitnehmen. Die waren mit Sicherheit eine Menge wert. Ginas Herz klopfte. Sie sollte so schnell wie möglich hier verschwinden, bevor sie entdeckt wurde. Die Gestalt begann, mit den Händen auf dem Boden zu tasten, als ob sie nach etwas suchte. Unwillkürlich trat Gina
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