Märchenmord
einen Schritt zurück und stieß gegen einen Tisch. Das Geräusch war in der dunkeln Stille unnatürlich laut. Die Gestalt erhob sich abrupt. Gina hörte einen leisen Aufschrei. Drohende Worte wurden geflüstert, dann flog etwas auf sie zu und traf sie an der Stirn.
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Vierundzwanzig
G ina spürte eine leichte Berührung. Jemand strich ihr mit kühler Hand über die Stirn. Es war nicht mehr als ein Hauch. Doch richtig wach wurde sie erst, als etwas Kaltes auf ihre Stirn gelegt wurde. Sie fühlte sich schwindelig, als wären rechts und links vertauscht, als hätten ihre Gehirnhälften den Platz gewechselt. Sie hatte doch die Augen geöffnet, oder etwa nicht? Sie war sich nicht sicher, denn da war diese Dunkelheit, die sie umfing. Sie konnte einfach nicht klar kriegen, ob sie wirklich noch ohnmächtig oder wieder online war. Vielleicht stand sie auch bereits an der Schwelle zum Tod. Alles war möglich.
Nein, sie spürte deutlich, es war nicht nur kalt, es war nass i n ihrem Gesicht. Und das waren keine Tränen. Es war das Gefüh l der Kindheit, wenn ihre Mutter mit feuchten Wadenwickeln an s Bett kam. Nur lag der Wadenwickel auf ihrer Stirn wie ein Turban . »Aufwachen«, hörte sie jemanden sagen . Damit war eines klar. Tot war sie nicht. Da sah man ja angeblich ein Licht am Ende des Tunnels. Einen hellen Schein erkannte sie zwar, aber es war lediglich der Lichtkegel einer Taschenlampe . »Wie fühlst du dich?«, fragte die unbekannte Stimme . Konnte das Julien sein? Hatte der so eine hohe Stimme? Vielleicht hatte bei ihm der Stimmbruch noch nicht eingesetzt . Konzentriere dich, Gina! Streng dich an! Reiß dich zusammen , Herrgott noch mal, das hier ist eine Prüfung, die ist schlimme r als jedes Examen bei Madame Poulet . Allah, dachte sie und richtete sich auf. Der Boden unter ihr wa r hart und glatt. Er fühlte sich an wie Nikolajs Parkett . Mann, sie musste richtig wach werden. Sie war der Regisseur . Sie hatte die Fäden in der Hand. Sie war nicht der Schauspieler , der am Boden liegen musste, bis jemand sagte: »Schnitt! « »Wo bin ich?«, fragte sie, denn genau das sagte man in solche n Momenten im Film . »Da, wo du nicht sein solltest«, antwortete jemand. Nein, da s war nicht Julien. Diese Stimme war eindeutig weiblich . »Licht. « »Ich kann kein Licht machen, Gina. Wir dürfen hier nicht sein . Ich nicht und du auch nicht. Mann, du bist wirklich hartnäckig. « Die Fremde kannte sie. War es Pauline ? »Wer bist du?«, fragte Gina und hielt sich die Hand über die Augen, um ihr Gegenüber zu erkennen .
»Erkennst du mich nicht? « Gina schüttelte den Kopf. Der Lichtkegel der Taschenlampe bewegte sich . »Ich bin es, Najah. Du hast doch nach mir gesucht. « »Najah?« Also war sie doch im Himmel. Bei Najah . »Najah?« Gina schrie den Namen heraus . »Psst. Leise. « »Aber du bist doch tot. Ich habe es gesehen. Und was hast d u mit deinen Haaren gemacht? « »Was wohl? Ich habe sie mir abgeschnitten. «
*
Sie saßen zusammen im Dunkeln, nein, im Halbdunkeln. Najah hatte die Taschenlampe vor sie gelegt, damit sie sich erahnen konnten, und endlich erfuhr Gina den Teil der Geschichte, der ihr die ganze Zeit gefehlt hatte. »An dem Abend, als Karim in die Wohnung kam, um mich zu töten, habe ich auf Pauline gewartet. Ich musste ihr doch erzählen, dass Julien auf dem Weg nach Paris war. Sie sollte zu ihm gehen und ihm erzählen, ich sei irgendwohin gefahren und wollte nichts mehr von ihm wissen.« »Aber warum denn? Ich dachte, das ist die große Liebe zwischen euch.« »Gerade deswegen.« Najahs Stimme zitterte leicht. »Weißt du, was passieren würde, wenn Karim Julien findet? Wenn er weiß, wo er ist? Er würde ihn töten, ohne mit der Wimper zu zucken, so wie er versucht hat, mich zu töten.« »Aber wie bist du entkommen? Ich habe gesehen, dass er mit dem Messer auf dich los ist. Du bist gefallen. Hast auf dem Boden gelegen, dich nicht mehr gerührt. Kannst du dir vorstellen, was für einen Schock ich hatte?«
Eine Weile schwieg Najah, dann sagte sie: »Meine Mutter ha t mich beschützt. « Gina verstand rein gar nichts. Hatte Pauline sie angelogen ? »Deine Mutter? Ich dachte, sie ist tot. « »Ja«, erwiderte Najah traurig, »aber sie hat mir vor ihrem To d versprochen, dass sie mich beschützt, und dieses Verspreche n hat sie gehalten. « Mein Gott, Ginas Mutter machte dauernd Versprechen, aber si e hielt sie so gut wie nie ein. Versprechen von Müttern, das ware n ziemlich oft Flops. Leere
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