Märchenmord
Bett legen und die Nacht tief und fest schlafen. Jedoch konnte sie den Lärm unter ihr, das Heulen der Sirenen, die vielen Schritte, das Geschrei der Menschen, das leise Schluchzen, das ihr eigenes war, nicht ignorieren. »Hey«, hörte sie jemanden dicht neben sich. Sie öffnete die Augen, blinzelte kurz und blickte in das ernste Gesicht von Noah unter den schweißverklebten Locken, die in seine Stirn hingen. Sein weißes T-Shirt war schmutzig und eine blutige Strieme ging über seine Stirn wie ein Zeichen. »Wie ist das passiert?« Ihr Finger deutete auf die Schramme. »Eine Warnung von Karim. Aber es sieht schlimmer aus, als es ist.« »Hat dein Großvater für diesen Fall auch ein Sprichwort auf Lager?« »Ich hatte noch keine Gelegenheit, ihn zu fragen. Aber ich werde es nachholen.« Plötzlich überfiel Gina die Erinnerung. Sie spürte wieder das Gewicht der Melonen an ihren Füßen, den Aufprall, als sie au f dem Boden aufschlugen. »Wie geht es Najah? Und Monsieu r Saïd? « »Alles ist in Ordnung. Monsieur Saïd hat eine Kopfverletzung . Er kommt ins Krankenhaus. Aber Karim hat es schwer erwischt . Du hast ihn außer Gefecht gesetzt. « »Ich? « »Ja.« Noahs gewohntes Grinsen erschien in seinem Gesicht . »Hast du eine Ahnung, was eine Wassermelone wiegt? « »Nein. « »Auf jeden Fall genug, um Karim zu erschlagen. « »Ist er …«, Gina wagte den Gedanken kaum zu denken, »tot? « »Nein, bewusstlos.« Er erhob sich. »Aber komm mit. Ich glaube , deine Mutter wäre glücklich, dich zu sehen. « »Meine Mutter? Was macht die denn hier? « »Sie weint in den Armen eines Mannes. « » Mon Dieu , Phillippe«, murmelte Gina. »Ich wusste es doch. « »Komm, sie macht sich fürchterliche Sorgen um dich. « Gina fiel etwas ein. »Du musst Hakima anrufen. Sie macht sic h auch große Sorgen. Wo warst du nur? Ich dachte du wolltes t nach Hause. « »Ich bin zurück zu dem Reisebüro von Ahmed gefahren. Ic h wusste, dass er etwas vorhatte. Sie haben darüber gesprochen. « »Das hast du mir nicht erzählt. « »Ich wollte dich nicht noch mehr beunruhigen. Du warst j a schon so das reinste Nervenbündel. « »War ich nicht«, widersprach Gina . »Jedenfalls bin ich Karim hierhergefolgt. Er hat Monsieur Saï d in der Nacht, als er Najah überfallen hat, draußen erkannt un d vermutet, dass er etwas über Najahs Verschwinden weiß. Un d dann hat er dich ständig in seinem Laden gesehen. « Jetzt machte alles einen Sinn. Karim hatte sie tatsächlich verfolgt, aber nur, weil er dachte, sie könnte ihn zu Najah führe n und am Ende hatte sie Najah direkt in seine Falle laufen lassen . »Du hattest recht, die Polizei wollte uns nicht helfen. « »Nein, hatte ich nicht. Als ich Karim hier im Laden sah, habe ic h sie angerufen. Aber lass mich jetzt bei Hakima anrufen. Kan n ich dazu dein Handy benutzen? « »Mein Handy, aber du weißt doch… « »Pst…« Noah zog etwas aus der Tasche seiner Jeans. »Ich hab e es vor der Polizei gerettet. Außer uns weiß niemand, dass er e s hatte. « »Du denkst immer an alles, oder? « »Meistens. «
*
Die Szene, die sich Gina bot, als sie hinunter in den Lagerraum stieg, war ganz großes Kino und reif für die Oper. Während zwei Sanitäter Karim, der weiß wie ein Leichentuch war und jämmerlich vor sich hin stöhnte, auf der Liege abtransportierten, hatten sich auf wundersame Weise zwei Paare gefunden. Ihre Mutter hing tatsächlich an der Schulter eines Mannes. Nur stellte Gina verwundert und dann erleichtert fest, dass nicht Philippe die Tränen ihrer Mutter mit einem weißen Taschentuch trocknete, sondern Kommissar Ravel und offenbar ging er völlig in dieser Aufgabe auf. War die tolle Frau, die Ravel im Kommissariat abgeholt hatte, etwa ihre Mutter gewesen? Diese Geschichte musste sie für später aufheben, stattdessen atmete sie erleichtert auf, als sie in der Mitte des Raumes Najah erkannte, die einen jungen braun gebrannten Mann in Jeans, weißem T-Shirt und Sandalen küsste. Seine Haare waren von der Sonne gebleicht. Sie nahmen niemanden wahr. Sie waren irgendwo in eine andere Welt abgetaucht. Sie küssten sich, als wäre es das erste Mal, und außer ihnen wusste nur Gina, dass dies auch de r Fall war. Julien war also tatsächlich gekommen, um Najah z u retten. Gott sei Dank. Gina hasste Filme ohne Happy End . »Habe ich nicht gesagt, dass ich die Dinge in Ordnung bringe?« , hörte sie jemanden hinter sich sagen . Sie drehte sich um. Vor ihr stand ihr Großvater. Er hatte
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