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Magermilch

Magermilch

Titel: Magermilch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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feuchten Pfad zu, der durch dichtes Buschwerk an ein niedriges Felswändchen hinführte.
    Los jetzt!
    Sie trat entschlossener auf, erreichte den Abbruch und schickte sich an, hinaufzuklettern. Als sie die rechte Fußspitze auf die unterste Felsnase setzte, konstatierte sie befriedigt, dass sie wie immer ihrer Vernunft gehorcht hatte, die ihr schon seit Jahren riet, stets bequeme Schuhe mit Profilsohlen zu tragen.
    Im nächsten Augenblick rutschte sie ab.
    Fanni biss die Zähne zusammen, klammerte sich an einen verkrüppelten Strauch, der aus einer Felsspalte wuchs, und versuchte es erneut.
    »Mist«, murmelte sie, weil ihre Sportschuhsohlen an dem glitschigen Gestein kaum Halt fanden.
    Fanni musste sich an herunterhängenden Zweigen und aus dem Felsen ragenden Wurzeln festkrallen und sich mühsam aufwärtshangeln. Auf halbem Weg wurden die Haltegriffe spärlicher. Da zwängte sie die Ferse des linken Fußes recht ungraziös in einen schmalen Riss, bohrte die Spitze des rechten in ein mit Erde gefülltes Gesteinsloch und kam wie eine Raupe über die obere Kante gekrochen.
    Mit dreckigen Händen, versauten Jackenärmeln und dunklen Schmutzstreifen auf der hellen Hose stand sie nach einigen Minuten auf dem kleinen Plateau, an dem die Kletterführen begannen.
    Ihr Blick wanderte nach rechts, irrte herum, fand jedoch nur den Stahlrost, der als Standplatz unter der ersten Leiter diente.
    Sie wandte sich nach links.
    Das Felsband, das zum Beginn der Drahtseilversicherung der zweiten Trasse führte, bog um eine Ecke. Fanni machte ein paar Schritte, umrundete einen Vorsprung und blieb abrupt stehen. Einen halben Meter vor ihr befand sich –
    Was zu erwarten war!
    Fanni wurde übel. Das schmale Steiglein, auf dem sie stand, begann zu schwanken.
    Sie lehnte sich an die neben ihr aufragende Felswand, beugte sich vornüber und schloss die Augen.
    Ein Toter!
    Tot ist er, tot. Und er hängt auf eine Weise da, wie kein Toter dahängen sollte.
    Weil er halt nicht so sanft entschlafen ist, wie es einem die Sterbeanzeigen und die Nachrufe gewöhnlich glauben machen wollen! Der hier ist abgestürzt – heruntergeflogen aus dem Quergang da oben!
    Aber.
    Auch wenn du es lieber mit einer erstklassig aufgebahrten Leiche frisch aus den Händen des Thanatologen zu tun hättest – DER KERL IST ABGESTÜRZT!
    Aber.
    Stell dich nicht an! Sieh hin!
    Widerwillig öffnete Fanni die Augen und begann zu keuchen.
    Durchatmen!
    Sie atmete gepresst. Beklommen schaute sie den Toten an und las aus den Blessuren, wie die letzten Minuten im Leben dieses Kletterers verlaufen sein mussten.
    Er war nicht einfach aus der Wand gestürzt, hinuntergefallen und unten irgendwo aufgeprallt. Er war gerutscht, gekollert und geschrammt. Womöglich hatte er sich ein paarmal überschlagen. Am untersten Stahlstift der Seilversicherung hatte er sich verfangen.
    Fanni nahm die zerfetzte Kleidung des Verunglückten wahr, das Blut auf dem Gestein, den in einem widernatürlichen Winkel abstehenden Arm – und die Position, in der er sich befand.
    Der Tote hing in den Kniekehlen kopfüber an dem Drahtseil, das hier ein Stück weit waagerecht verlief.
    Er muss die letzten Meter der Wand relativ langsam heruntergekommen sein, dachte Fanni. Vermutlich hat sich seine Kleidung hie und da an Felszacken und Simsen verhakt und somit den Absturz gebremst. Anders ist nicht zu erklären, wie seine Beine hinter das gespannte Seil geraten konnten. Als sie feststeckten, ist der Oberkörper nach hinten gekippt.
    Deshalb hängt der Bursche da wie ein Overall auf der Wäscheleine!
    Fanni zuckte zusammen.
    Es war nicht das erste Mal, dass sie vor dieser Gedankenstimme zurückschreckte, die sich ungerufen meldete, ungebeten einmischte, nicht abzuschalten war und zuweilen eine recht krude Ausdrucksweise an den Tag legte.
    Sie zwang sich dazu, die Augen auf das Felsband vor ihren Füßen zu senken, wo der Kopf des Verunglückten zwischen zwei Steinkegeln steckte.
    Das Gesicht war ihr zugewandt. Sie begann, es mit Blicken abzutasten. Auf der Stirn sah sie einen Riss klaffen. Ein Knochensplitter, der aus der rechten Schulter ragte, hatte sich ins Ohr gebohrt. Aus einem Mundwinkel war Blut gesickert.
    Warum trägt er keinen Helm?
    Fanni schluckte sauer schmeckenden Speichel, starrte in offen stehende, blicklose Augen.
    Sie fing an zu hyperventilieren.
    Genug geglotzt, genug gekeucht, Fanni Rot! Höchste Zeit, einseinszwo anzurufen!
    Sie nickte dreimal hintereinander, einmal für jede Ziffer. Dann

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