Magie der Schatten: Roman (German Edition)
mehr als in den anderen Häusern, die wir besucht haben.«
Danach waren sie erst einmal still, die Kutsche rumpelte, und ich konnte nachdenken. Es gab nur zwei Waisenhäuser in Whitton, und das andere war für Jungen – das hieß, sie mussten sich auch in London selbst umgesehen haben. Wollten die beiden jetzt nicht nur mich, sondern waren am Ende auf der Suche nach einem ganzen Stall kleiner bis mittelgroßer Mädchen? Aber wofür? Egal, es sollte mir recht sein. Sie hatten mich immerhin ausgewählt – wenn das sogar aus einer größeren Auswahl geschehen war, ehrte mich das umso mehr.
»Es ist Zeit, heimzufahren«, sagte Mr. Molyneux zu seiner Schwester. Und dann, man sollte es kaum für möglich halten, beugte er sich zu mir vor, als wäre ihm plötzlich wieder eingefallen, dass ich existierte. »Hast du eine Vorstellung, warum wir dich ausgewählt haben, und wofür?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn Sie es mir nicht sagen wollen …«, sagte ich und spielte schüchterner, als ich war. Ich war in keiner Position zum Frechsein. Noch konnten sie es sich anders überlegen und wieder umkehren, oder noch schlimmer, mich mitten im Regen auf der Straße aussetzen. Nicht dass ich etwas gegen ein bisschen Freiheit einzuwenden gehabt hätte, aber ich wollte den Zeitpunkt, an dem ich mein großes Abenteuer begann, gern selbst bestimmen.
»Das will ich in der Tat nicht«, sagte er und lächelte leicht. »Es würde wenig Sinn ergeben. Ich es müsste es dir ein zweites Mal erklären, wenn wir erst einmal Hollyhock erreicht haben. Du wirst deine Augen brauchen, um zu lernen, nicht nur deine Ohren.«
Mir gefiel der Name des Hauses. Hollyhock, das klang besser als St. Margaret’s. Hollyhock Hall. Das Malvenhaus. Ich stellte mir vor, dass es auf dem Land lag, weit weg von der Zivilisation, ein altes Herrenhaus, in dem die Geschwister wohnten, mit niemandem als einem alten, fast blinden Diener und ihrem Kutscher. Und natürlich rankte sich ein Geheimnis um das Haus. Es gab kein altes Haus ohne Geheimnisse.
»Ich nehme an, Sie wollen mich nicht zur Tochter?«, versuchte ich es vorsichtig mit einer Frage, wo ich schon einmal seine Aufmerksamkeit hatte.
»Du wirst noch erfahren, für was wir dich brauchen«, erwiderte der Gentleman. »Und du wirst damit zufrieden sein. Wir möchten kein unglückliches kleines Mädchen in unserem Haus haben. Sei brav und halte dich an die Regeln, dann müssen wir dich auch nicht bestrafen. Ungerechtigkeit liegt uns fern. Sie ist so lästig.« Wieder lächelte er in dem spärlichen Licht, das durch die Ritzen hereinfiel.
»Ja, Mr. Molyneux, Sir«, sagte ich und nickte. »Madam.« Das sollte als Anrede erst einmal unverfänglich sein. Dass ich Worte wie ‚Vater’ oder ‚Mutter’ erst einmal nicht in den Mund nehmen musste, war ganz in meinem Sinn. Sie hätten sich nur fremd angefühlt. Die Molyneux’ waren nicht meine Eltern, nicht meine Familie, und sie sollten wissen, dass ich das nicht nur akzeptierte, sondern froh darüber war. Es hätte die Dinge nur unnötig erschwert. Nur dass sie mich noch keinmal nach meinem Namen gefragt hatten, störte mich ein wenig. Ich wollte nicht für den Rest meines Lebens, oder zumindest meiner Jugend, mit ‚Mädchen’ angeredet werden. Dass ich kein Junge war, wusste ich auch so.
»Hast du ihr die Puppe gezeigt?«, fragte die Lady ihren Bruder. Nicht mich – bis sie einmal das Wort an mich richtete, sollte es noch Stunden dauern.
»Selbstverständlich«, sagte Mr. Molyneux. »Sie lehnte sie ab.«
»Und wo ist die Puppe jetzt?«
»Eine der Gören hat sie bekommen.« Das war das erste Mal, dass ich aus Mr. Molyneux’ Mund ein Wort hörte, das zu dem geringschätzigen Blick in seinen Augen passte. »Wir brauchen sie nicht mehr.«
»Es war keine von ihren«, sagte die Lady, mehr zu sich selbst, als wollte sie ganz sicher gehen.
»Nein«, sagte er. »Natürlich nicht.«
Und dann waren sie wieder still. Ob das an meiner Anwesenheit lag oder daran, dass sie einander nach den langen gemeinsamen Fahrten, die sie schon hinter sich haben mussten, nicht mehr viel zu sagen hatten, konnte ich nicht beurteilen, aber den Rest der Fahrt über hörte ich kein Wort mehr von ihnen.
Und die Fahrt war lang. Ich hatte erwartet, dass wir irgendwann zur Nacht vielleicht irgendwo Station machen würden, und mir versucht auszumalen, wie es wohl war, in einem echten Gasthof abzusteigen – ob ich mit den Pferden im Stall schlafen müsste oder ein Zimmer
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