Magna Mater - Roman
Entscheidungen laufen in unserem Kopf Prozesse ab, von denen wir nichts mitbekommen. Die Bernsteinschnecke weiß nicht, was sie will, sie fühlt es. Auch für uns gilt: Gefühle sind Bestandteil unseres Denkens. Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.
Kennen ist Nichtwissen. Jeder kennt die Wolken. Aber wer weiß wirklich, was das ist: eine Wolke?«
Die Worte des dunklen Skarabäus klangen feierlich in der hohen Höhle. Der Vortrag war natürlich viel länger, als ich ihn hier aus dem Gedächtnis wiederzugeben vermag.
Im verglimmenden Fackelschein wurde ich Zeugin eines seltsamen Rituals. Ein Gong wurde angeschlagen, gleichmäßig, monoton, bis alle in Trance versanken. Und dann vernahm ich Jakarandas Stimme:
»Im hohen Turm erkeimt ein Kind,
gezeugt in Lust, belebt von Wind
aus urgeheimen Weiten.
Noch ist sein Leben nur ein Traum.
Es windet sich durch Zeit und Raum,
dem Dunkel zu entgleiten.«
Geheimnisvolle Worte aus dem Mund meines Kindes. Die Welt der Skarabäen wurde mir immer unheimlicher, und ich spürte, dass sie mehr und mehr Besitz von mir nahm. Schon trug ich ihre Gewänder und nahm an rätselhaften Ritualen teil, die mir Angst einflößten.
Bedrohlich erschien mir diese Männergesellschaft, fremdartig wie die Mönche aus der alten Welt. Auch in der Abgeschiedenheit der Klöster wurde meditiert, geforscht und Wissen verwaltet. »Gott ist groß«, verkündeten die in den Himmel ragenden Kirchtürme, und von den Minaretten ertönte es fünfmal am Tag: »Allah ist groß.«
Die Skarabäen glauben Gott ist klein. Nein, sie glauben es nicht, sie wissen es, sagte Karras: »Wir sind keine Glaubensgemeinschaft, sondern eine Gruppe von Wissenschaftlern in einem Orden, der sich der Vernunft verpflichtet weiß.«
Männer! Welch abartiges Geschlecht!
Mein ganzes Leben hatte ich unter Frauen und Blühenden verbracht. Männliche Blühende unterschieden sich kaum von den weiblichen. Aber Männer, richtige Männer, waren Fabelwesen aus einer anderen Welt. Nur einmal war ich einem begegnet. Den hatte ich wie einen Fisch aus dem Meer gezogen, und er hatte mir im Fieberwahn ein Kind in den Leib gepflanzt.
Nie hätte ich mir vorzustellen vermocht, dass sich hinter der Maske der Skarabäen Männer verbergen könnten. Männer waren für mich Eintagsfliegen mit einem Besamungsauftrag kurz vor ihrem Ableben.
Ich erkannte mit Schaudern: Unser aller Anfang und Ende lag in den Händen einer testosterongesteuerten Menschenart, die wir zum Schutz der Vernunft abgeschafft hatten.
Ob die Magna Mater das wusste?
Wie konnte es anders sein. Aber warum wusste ich nichts davon?
Ein dunkler Vorhang trennte mich von der Welt, die mir bisher so vertraut erschienen war. Nichts schien mehr so zu sein, wie es war, bevor ich auf dieser Toteninsel an Land ging.
34. KAPITEL
D ie Trommeln warteten darauf, geschlagen zu werden. Aufkommender Wind dämpfte jeden Laut. Der Mond war fast voll. Unruhe hatte die Männer erfasst. Sie schliefen unter freiem Himmel neben den Feuern, die die ganze Nacht brannten.
Tagsüber liefen sie in kleinen Gruppen auf und ab, wie Tiere im Käfig. Kaum einer sprach. Sie waren alle so sehr in sich selbst versunken, dass ich mich abseits von ihnen an einem Feuer niederließ. Estragon legte sich zu mir und meinte: »Morgen werden die Frauen gebracht. Ich möchte, dass du bei der Begrüßung im Hafen dabei bist. Wir werden Masken tragen. Das gilt natürlich auch für dich. Mit ihrer Hilfe kannst du die Frauen aus der Nähe begutachten, ohne selbst erkannt zu werden. Als Frau verstehst du mehr vom weiblichen Geschlecht als wir. Ein Missgeschick wie mit dieser Attea darf uns nicht noch einmal unterlaufen. Ich will wissen, ob eine dabei ist, die sich verweigert, die nicht bereit ist, ihr Leben für ein neues zu geben. Von den Orgien halte dich fern. Sie werden nur von den Liebenden lustvoll erlebt. Unbeteiligte erfüllt die Gier mit Abscheu.«
Das Licht des aufgehenden Vollmondes lag auf dem Meer wie flüssiges Gold, eine flimmernd helle Straße bis zum Horizont. Darauf glitten wie dunkel gefiederte Wasservögel die drei Barken mit den Frauen herbei. Wir standen am Pier und schlugen zum Willkommen die Trommeln.
Letzte Umarmungen an Bord zwischen den alten Ordensfrauen und ihren Schützlingen. Verlockend sahen sie aus, die jungen Frauen, wie Blüten, die darauf warten, bestäubt zu werden.
Unsere Masken erschreckten die Blühenden. Wenn die Skarabäen sie hochhoben, um sie an Land zu setzen,
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