Magyria 01 - Das Herz des Schattens
auf der Mauer; sie brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass es brennende Pfeile waren. Da bemerkte Hanna die dunklen Gestalten auf dem Eis. Sie hörte das Bersten und Krachen und das hervorbrechende Licht, und jeder Schlag fuhr ihr wie ein Dolchstoß durchs Herz. Irgendwo dort unten war Mattim. Und ihr Blut würde ihn nicht lange schützen, wenn das Wasser über ihn kam.
Der Prinz tauchte in die brennenden Fluten. Verzweifelt griff er nach dem Eis und versuchte, sich an der brechenden Kante wieder hochzuziehen. Seine Hände krallten sich in die zerberstenden Splitter, er fiel zurück, versuchte es erneut, während der Fluss ihn festzuhalten suchte, an ihm riss, ihn mit übermenschlicher Kraft in die Tiefe zog. Er spürte die Hände an seinem Arm, an seinem Bein … nicht der Donua. Sondern Kunun. Kunun, der hinter ihm im Wasser ruderte, wild um sich schlagend, der sich an ihm festhielt, ihn zurückzog, ihn hinunterriss, als kämpften sie beide am Rand eines brodelnden Vulkans.
»Lass - mich - los!«
Der Schattenprinz lachte wie ein Irrer. »Bring mir den Sieg, kleiner Bruder!«
»Lass endlich los! Wir werden beide untergehen!«
Kunun zog ihn mit sich, und das Wasser schlug über ihnen zusammen. Mattim wehrte sich verzweifelt. Überall war Wasser, über ihnen die brechende, splitternde Decke aus Eis, die ihn hier unten festhielt. Das Licht umgab ihn von allen Seiten, blendendes, gleißendes, verzehrendes Licht, das zur Tiefe hin immer heller wurde. Vor ihm schwebte
Kunun im Wasser, als flöge er mitten im Feuer, sein Haar schien in Flammen zu stehen, hinter ihm flatterte der brennende Mantel. Mattim breitete die Arme aus und versuchte nach oben zu schwimmen, wie er es schon einmal getan hatte, aber sein Bruder umklammerte ihn in seiner tödlichen Umarmung, und sie sanken beide tiefer und tiefer.
Hanna schrie, als sie ihren Freund versinken sah. Dort im Licht, das aus dem Eis strahlte, blendender als ein Stern. Sie verfolgte, wie die beiden Männer kämpften, untergingen und wieder hochkamen. »Mattim! Mattim!«
Sie wollte zu ihm, und ihre Füße berührten schon das Eis, als Réka sie zurückriss. »Spinnst du? Du wirst einbrechen!« Im nächsten Moment erkannte sie den Vampir. »Kunun!«, kreischte sie. »Da ist Kunun!« Nun wollte sie losstürzen, um den Mann, den sie liebte, aus dem Wasser zu ziehen.
Der Schrei brachte Hanna zur Besinnung. Sie wandte sich um und fasste das Mädchen am Arm. »Réka, hör mir zu.« Sie zwang sich zur Ruhe, zwang sich, langsamer und gefasster zu sprechen. Wenn die Brüder kämpften, bis die Wirkung des Blutes nachließ, waren sie beide verloren. Es gab nur einen Weg, um Mattim zu retten, um dafür zu sorgen, dass er länger durchhielt als Kunun.
»Réka, dies ist dein Traum. Dies ist der Blick in dein Herz. Was fühlst du? Willst du sterben? Willst du im Wasser untergehen oder willst du leben?«
»Leben«, schluchzte Réka. »Er soll nicht untergehen, er soll leben!«
»Dies ist dein Traum«, wiederholte Hanna eindringlich. »Was ist in deinem Herzen? Willst du gemeinsam mit Kunun untergehen? Willst du, dass ihr beide in der Nacht und der Finsternis versinkt? Willst du ihm dein Leben opfern? An deinem Geburtstag? Willst du ihm deine Zukunft opfern? Alles, was du bist und jemals sein könntest?«
»Ja!«, schrie Réka. Sie riss sich los und machte einen Schritt vom Ufer fort. Sofort versank ihr Fuß im eiskalten Wasser, während um sie her das Eis krachend zerbarst. Mit einem Aufschrei sprang die Fünfzehnjährige nach hinten. »Nein«, schluchzte sie. »Nein, ich will leben.«
»Nimm dein Opfer zurück. Halt dein Leben fest. Du darfst Kunun nicht ins Eis folgen. Willst du leben?«
»Ich will leben.« Tränen rannen über Rékas Wangen. »Ich will leben!«
»Ist das dein innerster Wunsch?«, flüsterte Hanna. »Du willst nicht sterben?«
»Ich will, dass dieser Traum endet«, sagte Réka. »Ich will zurück dorthin, wo es hell ist. Ins Licht. In die Wärme. In die Sonne. Ich will nicht sterben. Ich will leben!« Als wären sie wirklich dort, in Rékas Herzen, brach das Eis völlig auseinander, und das Licht aus der Tiefe des Flusses erleuchtete Ufer und Stadt. Es war taghell.
Die Brüder kämpften noch immer miteinander, in den Fluten, umgeben von Licht und Brand, und sanken tiefer und tiefer. Auf einmal ging ein Ruck durch Kununs dunkle Gestalt, und er öffnete die Hände. Sein Gesicht verzerrte sich, lautlos schrie er seine Qual hinaus. Seine Augen, die
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