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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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die Hand oder in den Arm. Dann bildete sich eine Kruste, und der Schmerz ging in ein fast angenehmes Jucken über.
    Das Einschlafen war schwer, jede Nacht von neuem. Allein im Zimmer, in der weißlich gemaserten Dunkelheit, in der die Schatten sich zu bewegen schienen, wenn man nicht hinsah. Und wenn man irgendwann, nach Ewigkeiten voller Knack- und Raschellaute in den Regalen und unter dem Bett, doch eingeschlafen war, fand man sich einem Wesen gegenüber, das mit einem verwandt war und dessen Pupillen Löcher in eine sehr tiefeSchwärze waren, und man fuhr auf, mit klopfendem Herzen, wieder wach. Wenn er schrie, kam seine Mutter, aber sie war wütend und roch nach Hautcreme und wollte schlafen. Sie war nicht mehr wie früher. Auch sein Vater nicht.
    Es stellte sich heraus, daß David mit Zahlen umgehen konnte. Daß sie ihm vertraut und angenehm waren, daß sein Geist mit ihnen arbeitete, ohne daß er selbst es bemerkte. Nach einer Autofahrt wußte er, daß zweitausendvierhundertsiebenunddreißig Mal der weiße Pflock am Straßenrand vorbeigeglitten war; dabei hatte er nicht mitgezählt oder konnte sich wenigstens nicht daran erinnern, mitgezählt zu haben. Sein Vater rückte einen Stuhl an Davids Stuhl heran, setzte sich, legte seine Hände auf Davids Knie, beugte sich vor – er hatte den Schnurrbart eines Seehundes und eine Brille und zu viele Falten – und sagte:
    »Siebenundzwanzig mal dreiundsechzig.«
    David schluckte und sah weg. »Tausendsiebenhunderteins.«
    Sein Vater tippte etwas in einen winzigen Taschenrechner, stutzte, nickte und sagte: »Fünftausendsechshundertdreiundneunzig mal achthundertsiebenundsechzig.«
    David schloß die Augen und lauschte in die warme, orange gefärbte Leere. Es roch nach Essen, im Nebenzimmer kochte seine Mutter, er hatte Hunger.
    »Vier Millionen«, sagte er, »neunhundertfünfunddreißigtausend ... achthunderteinunddreißig.«
    Sein Vater tippte und wurde bleich. An seinen Wangen traten einen Moment lang die Kieferknochen hervor. Er schneuzte sich. »Und daraus die Wurzel?«
    David rutschte unbehaglich hin und her, er wäre gern aufgestanden, aber die Hand auf seinem Knie hielt ihn fest. Die Fensterscheibe glänzte, als wäre Licht darin eingesperrt.
    »Zweitausendzweihundert ... einundzwanzig. Komma fünf. Ungefähr fünf ...« Er zuckte die Achseln, sein Vater ließ ihn los. Endlich.
    »Das war ganz gut«, sagte sein Vater, stand auf und nahm die Brille ab. »Aber das bedeutet nicht viel, das können einige Leute, glaub mir. Das letzte war auch nicht ganz richtig.«
    »Komma sechsundsiebzig, nicht wahr?«
    Sein Vater nickte und ging hinaus. David hörte ihn im Nebenzimmer auf und ab gehen. Später, beim Essen, schlug sein Vater plötzlich mit der Faust auf den Tisch, so fest, daß alle Teller klirrten, und rief: »Iß nicht so viel, du wirst dick werden! Willst du dick werden?« David starrte ihn an und verstand nicht, warum er so wütend war.
    Dann ging er die Straße hinunter, um Marcel zu besuchen. Der Hund des Nachbarn fixierte ihn hinter seinem Zaun aus schmalen Augen undknurrte. David musterte ihn, er wich zurück und knurrte lauter. Die Hitze stieg flimmernd vom Asphalt auf. Bis zu Marcel waren es vierzehn Häuser, zwölf schwarze Mülltonnen, achthundertvierzehn Schritte.
    Ein fremder Junge ging neben ihm. Und zwar – aber das fiel ihm erst jetzt auf – schon die ganze Zeit. Er sah David an.
    »Mach das lieber nicht.«
    Er hatte die Hände in den Taschen und blonde Haare und gelbliche Zähne mit einer Lücke ganz vorne, und sein Schatten zog schmal und schwarz neben ihm her.
    »Was?«
    »Mach das lieber nicht. Natürlich weißt du nicht, wovon ich rede. Aber du wirst es verstehen.«
    Der Junge zog die rechte Hand aus der Tasche, betrachtete sie nachdenklich, lächelte, holte aus, und David traf ein Schlag in den Nacken, so fest, daß er das Gleichgewicht verlor und Funken durch sein Blickfeld sprühten, und dann fühlte er die Straße gegen seine Stirn prallen, und alles wurde schwarz ... Als er aufstand und sich umsah, war von dem Fremden nichts mehr zu sehen. Marcels Mutter gab David Kuchen und klebte ihm ein Heftpflaster auf die Stirn. Von dem Kuchen aß er zuviel, und in der Nacht war ihm schlecht, und er erbrach sich zweimal krampfhaft, doch nicht ohne ein Gefühl der Erleichterung.
    In der Schule saß er neben Susanne Löblich. So hieß sie wirklich. Sie hatte nackte Arme, die im Frühling noch weiß waren und im Sommer braun wurden, und wenn das Licht

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