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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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morgens schräg durch das Fenster fiel, umgab der Haarflaum darauf sie mit einem hellen Goldton. Sie hatte drei Muttermale. Auch eine kleine Nase und längliche Augen. David nahm ihr den Bleistift weg, nur damit sie danach griff und ihr Arm den seinen streifte ... Die Lehrerin mochte ihn nicht. Daß er dick war und neun Jahre alt und besser rechnete als sie oder irgend jemand, das hätte sie hingenommen, und notfalls sogar, daß er für sein Alter so ungeeignete Bücher las wie Boris Valentinovs Die Textur der physischen Welt – aber auf keinen Fall, daß er gut im Fußball war. Begabte Kinder hatten nicht Fußball zu spielen. Das war eine Regel.
    David stand im Tor. Vorgebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, wartend. Die Spieler waren auf der anderen Seite des Feldes, der Wind bewegte die Grashalme, wehte einzelne Rufe herüber, und ihm fiel endlich die Formel ein, nach der er seit Tagen gesucht hatte. Da fühlte er es, noch bevor er es sah; und dann sah er es auch: Sie kamen.
    Ihre Gestalten wurden größer, und auch der Ball wuchs, während er von einem zum anderen hüpfte, ein weißer Fleck, dessen Bewegung ein kompliziertes Muster ins Grün schrieb. Sie schrien beim Laufen, aber er hörte nichts davon, er streckte dieArme aus, bereit zum Sprung, nur einen Moment noch, und der Ball flog im Zickzack am letzten Verteidiger vorbei und schnellte auf ihn zu. David spürte, wie der Boden unter ihm wegsank. Er flog, und der Ball flog, zwei Bewegungen, die aufeinander zustrebten, und für den Bruchteil einer Sekunde war es, als hätte die Schwerkraft ihn losgelassen. – Dann spürte er den Schlag gegen seine Handflächen und fühlte sich fallen, und dann lag er da, mit schmerzenden Händen, den Ball an die Brust gedrückt, im Geschrei der anderen, im starken Geruch des Rasens und für einen Augenblick vollkommen glücklich.
    »Ihr Sohn, Herr Mahler«, sagte die Lehrerin wütend, »ist ... wie soll ich das sagen? Es tut mir leid, er ist ... so eine Art Genie.«
    »Ja«, sagte sein Vater, »ich weiß.« Er räusperte sich und zog ärgerlich seine Krawatte zurecht. »Aber glauben Sie mir, daß das nicht unsere Erziehung ... Wir wollten eine ganz normale ... Wir wollten ...«
    »Aber das weiß ich doch«, sagte die Lehrerin mitleidig. »Das weiß ich doch.«
    Am selben Tag gelang es David, Susanne Löblich zu küssen. Es war auf dem Heimweg von der Schule: Er ging neben ihr, noch schmutzig vom Fußball. Die Sonne schien durch einen Wolkenschleier, und in den Autolärm mischte sich das vielstimmige Geräusch der Bienen. David blieb stehen,faßte nach ihr, hielt sie fest und preßte seinen Mund auf ihr Gesicht; er verfehlte ihre Lippen und traf nur eine warme, etwas salzige Wange. Nach einer langen, ewig langen Sekunde, der längsten Sekunde von allen, stieß sie ihn weg und rannte davon. Ihre Sandalen klapperten auf dem Stein, ihre Arme glänzten hellbraun. David sah ihr nach, dann ging er nach Hause. Er setzte sich und blickte eine Weile aus dem Fenster.
    Dann nahm er ein Blatt Papier und zeichnete den Entwurf eines neuartigen Kondensators. In dieser Nacht schlief er sofort ein, und er hatte zum erstenmal seit langem keine schlechten Träume.
    »Weißt du eigentlich«, fragte er Marcel, »daß es Zeit nicht geben kann?«
    Marcel schüttelte den Kopf; David versuchte, es zu erklären: Die Vergangenheit gibt es nicht, sie ist ja vorbei; die Zukunft gibt es nicht, weil sie noch nicht da ist; und die Gegenwart hat doch keine Ausdehnung, oder? Aber etwas, das keine Ausdehnung hat, das gibt es doch auch nicht! Ohne Vergangenheit also und ohne Zukunft und ohne Gegenwart – wo ist die Zeit? Na?
    »Keine Ahnung«, sagte Marcel. »Aber es sieht nach einem Trick aus.«
    »Wieso?«
    »Na weil es sie doch gibt. Du kannst so lange reden, wie du willst, es gibt sie! Es ist ein blöder Trick!«
    Jeden Nachmittag arbeitete David an dem Kondensator (hohe Kapazität, dabei fast kein Entladungsverlust), und langsam kam ihm die Gewißheit, daß er funktionieren würde. Und aus irgendeinem Grund war die Erinnerung an diesen Kondensator fest und für immer mit der an Susanne Löblich und an den halb gelungenen Kuß auf dem Heimweg verbunden – und diese wiederum mit einer anderen, späteren Erinnerung, mit der sie ein einziges, bloß durch Zufall auf zwei Momente in zwei verschiedenen Jahren aufgeteiltes Ereignis zu bilden schien. Das Mädchen der anderen Erinnerung hieß Maria.
    Maria Müller, aber an ihren Nachnamen hatte er schon damals

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