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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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nicht denken wollen. Es war Abend gewesen, und sie waren hinausgegangen, durch einen kleinen Wald mit schiefen, blattlosen Bäumen (in der Nähe, das wußte er inzwischen, war eine Fabrik, und das Hellgrün seiner frühen Erinnerungen war bereits verpestet gewesen; alles hier starb einen unauffälligen chemischen Tod) und dann hinaus, auf eine Wiese. Dort hatten sie sich, unter dem Vorwand, müde zu sein, ins Gras gelegt. Das war aber nicht weich, sondern frisch gemäht und stechend. Marias Augen waren deutlich zu sehen in der Dämmerung, sie lächelte ihm zu und begann, sein Hemd aufzuknöpfen, und er betastete sie und versuchte, das Sausen in seinen Ohren und das Flimmern vor seinen Augen und die hämmerndenSchläge seines Herzens zu ignorieren; und dann hatte er ihre Brust gefunden, die sehr weiß und hell aussah (ich darf, dachte er, nicht ohnmächtig werden!), und dann zog sie ihn an sich, und im Gras waren Ameisen und eine plattgedrückte Metalldose, und sie hatte seinen Gürtel geöffnet, und die Wiese stieg auf und höher, und er spürte, wie sie ihn und er sie fester hielt; und ihre weiße Brust und ihre Augen und der stechende Rasen und die Ameisen und ihre Augen, und dann sank die Wiese abwärts und erreichte ihren alten Platz, und ein herrenloser Dackel, der auf einmal schnüffelnd neben ihnen stand, war zu spät gekommen; es war schon alles vorbei.
    Maria hatte sich bald von ihm getrennt, und das hatte ihn nicht einmal überrascht. Schon an diesem Abend, auf dem Rückweg von der Lichtung, legte sie ihren Kopf auf seine Schulter (ihre Haare rochen noch nach Erde) und blickte in den Himmel und sagte in einem singenden, merkwürdig falschen Ton: »So viele Sterne! Die niemand zählen kann!«
    »Doch«, sagte er. »Also, heute sind es ...« Er sah auf, und es waren nur einige verstreute Lichtpunkte. »... nicht mal fünfhundert.« Und obwohl sie schwieg und ihren Kopf von seiner Schulter nahm, fügte er noch hinzu: »Vierhundertdreiundsiebzig. Nein, zweiundsiebzig, der war ein Flugzeug!« – Das hatte sie ihm nicht verziehen.
    Kurz darauf starb sein Vater. Ganz unerwartet, als Folge einer Krankheit mit kompliziertem Namen, die schwer zu erkennen war und kaum schmerzhaft und immer tödlich. David bemerkte, daß er fast nicht traurig war. Bloß erstaunt.
    Erstaunt, noch während des Begräbnisses. Es war immer noch Sommer, und die Bienen summten auf dem Friedhof besonders laut. Wenn man genau hinsah, waren sie als kleine goldene Punkte über den Gräbern zu erkennen. Ein Kinderchor sang laut und falsch. David hob seine linke Hand an die Schläfe, und da hörte er das Ticken seiner Armbanduhr, das Geräusch der Sekunden, wie sie auftauchten, vergingen, ins Nichts fielen. Der Priester stocherte, als er meinte, daß niemand hinsah, in seinen Zähnen. Dann war der Choral zu Ende, und man hörte nur noch die Bienen.
    David war eine Idee gekommen. Zunächst gar nicht kenntlich als Idee, bloß als Frage. Oder als Zweifel, oder als eine Ahnung; das wußte er selbst noch nicht. Auf dem Heimweg war er schweigsam und hielt die Augen geschlossen, aber das fiel niemandem auf. Eine Woche lang mußte er nicht zur Schule gehen; er verbrachte sie damit, Zahlen aufzuschreiben, von oben nach unten, in langen und sehr ordentlichen Kolonnen.
    Er hatte erwartet, daß er nun im Traum auch seinem Vater begegnen würde, aber das geschah nicht. Da war nach wie vor nur seine Schwester. Er stellteihr Fragen, und sie betrachtete ihn aus blicklosen Augen und antwortete; doch nach dem Aufwachen erinnerte er weder seine Fragen noch ihre Antworten und hatte nur manchmal noch den Klang ihrer Stimme im Ohr. Am Ende der Woche hatte er hundertvierzig Blätter gefüllt und wußte, daß es viel schwieriger war und viel länger dauern würde, als er vermutet hatte. Er legte die Blätter in eine Mappe, legte die Mappe in eine Schublade, versperrte die Schublade und beschloß, das Ganze zu vergessen.
    Er war immer noch, trotz seines Gewichtes und trotz der Brille, die er seit kurzem trug (ohne sie zerflossen die Gegenstände in Helligkeit und Tränen und einen leicht stechenden Schmerz), der beste Tormann der Schule. Noch immer konnte er den Lauf des abgeschossenen Balles vorausfühlen, noch immer verwandelte sich im richtigen Moment das Spielfeld mit Lärm und Wind und bewölktem Himmel darüber in einen geometrischen Raum und der Ball und sein eigener Körper in zwei Punkte darin und ihre Bahnen in berechenbare, ihrem Schnittpunkt entgegenlaufende

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