Mahlers Zeit
Kurven; und erst der Aufprall machte es rückgängig, schleuderte wieder Tribünen und Menschen und Gerüche und Laute und all die festen Dinge in die entleerte Welt.
»Mahler!« sagte der Trainer. »Wenn du nicht abnimmst, bist du nächstes Jahr nicht mehr dabei.«
»Warum?« fragte David. »Solange ich den Ball ...«
»Du nimmst ab, oder du fliegst raus. Und wenn du hundertmal ein Genie bist. Mir ganz egal!«
Also aß er nur mehr Milch und Knäckebrot. Tagsüber knurrte sein Magen fast ununterbrochen, und er wußte nicht, was schlimmer war: die schmerzhafte Leere in seinem Inneren oder die Angst, daß andere Leute das peinliche Grollen hören konnten, gegen das er machtlos war. Das Einschlafen war immer schwer gewesen, jetzt war es unmöglich. Der Hunger hielt ihn in der hellgrauen Dämmerung des Schlafzimmers fest, während er sich von der einen auf die andere und wieder auf die andere Seite drehte und sein Kissen immer unbequemere Formen annahm; und selbst das Dividieren einer Milliardensumme durch eine andere brachte keine Ablenkung. Drei Wochen hielt er durch, dann gab er es auf.
»Gut«, sagte seine Mutter, »nehmen wir es hin! Du wirst dick bleiben. Für immer. Es gibt Schlimmeres!«
Sie arbeitete jetzt in einem ledernen Büro, ging abends lange aus, schminkte sich zu stark und stand kurz davor, einen blassen und großen Herrn namens Wöbeling zu heiraten. David hatte nichts dagegen, aber er sprach selten mit ihr, weil er ihr schließlich von den Gesprächen mit seiner Schwester nicht erzählen konnte und weil es sonst nicht viel zu erzählen gab. Er erinnerte sich, wie sie früher, nach Creme riechend, an sein Bett gekommenwar, wenn die Alpträume ihn geweckt hatten, und wie sie manchmal bemüht und falsch gesungen hatte, um ihn zu beruhigen. Er erinnerte sich an den Nachmittag, an dem sie ihn seinem Vater und der ihn seiner Schwester in die Arme gelegt hatte. Jetzt war nur sie noch da.
In den nächsten Ferien nahm Marcels Familie ihn mit ans Meer. Er sah es zum erstenmal. Die blaue Endlosigkeit, deren Krümmung man am Horizont erkennen konnte, jedesmal, wenn der Bug eines Schiffes vor dem Schornstein verschwand. Und das dunkle Geräusch des Windes, das einen taub machte für alle Geräusche vom Strand.
David stand regungslos. Ein Krebs, wie eine kleine Maschine, betastete seine große Zehe. Das Wasser umspülte seine Knöchel; er machte einen und dann noch einen Schritt, es stieg an, bis zu seinen Knien. Die Sonne blendete.
Das rhythmische Schlürfgeräusch der Brandung. Die von den Wellen in die Luft geworfenen Lichtblitze. Die saugende Kühle an seinen Füßen. Er nahm die Brille ab und bemerkte, daß er Tränen in den Augen hatte. Und erst nach einiger Zeit nahmen die Schiffe und die Horizontlinie und die fernen, wirbelnden Möwen wieder Form an.
Und er wußte jetzt, daß er weitermachen mußte. Die Mappe aus der Schublade nehmen und weiter rechnen und es zu Ende führen, wie schwer es auch werden und wie lange es auch dauern würde. Erdrehte sich um und ging, Schritt für Schritt, durch den Nebel seiner Benommenheit, zurück an den Strand. Auf die Geräusche, das Gerede, den Lärm zu. Er hätte lieber die andere Richtung genommen. Einfach geradeaus, immer weiter. Aber das war nicht möglich.
Am nächsten Morgen fuhr er aus dem Schlaf, der Schreck hatte ihn getroffen wie ein Peitschenschlag. Es war wieder seine Schwester gewesen. Auf einem Weg, neben einem See unter bizarr verformten Bergen. Sie hatte auf eine Pflanze gezeigt, sie abgebrochen und ihm gegeben: eine grell leuchtende Blüte mit langen, dürren Blättern, die sich wie lebendig um seine Hand geschlängelt hatten. David atmete schwer, er schwitzte am ganzen Körper, die Angst wich nur langsam von ihm. Er setzte sich auf, atmete tief ein und sah an sich hinunter. Über das Weiß der Bettdecke krabbelte eine Fliege. Er hielt die Pflanze noch in der Hand.
Er schrie auf und schrie, als würde er nie mehr aufhören, und der Schrei zerriß das Zimmer um ihn, und er erwachte noch einmal, im gleichen Raum. Das Meer legte ein durchscheinendes Blau auf die Wände. In einer kleinen Vase standen halb verwelkte Nelken. Auf dem Nachttisch war ein leeres Wasserglas neben Valentinovs neuem Buch Regel und Kalkül. Seine Hände waren leer, das Bett war zerwühlt, das Kissen sah aus, als hätte jemand lange darauf eingeschlagen. Er zitterte am ganzenKörper. Er verstand es sehr deutlich: Das war eine Warnung gewesen.
Nach den Ferien verbot der
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