Maienfrost
Sie war sicher, dass die Aufnahme ein polizeiliches Beweisstück darstellte. Sie zeigte zwei nebeneinander liegende Leichen. Wie der Hintergrund, Gräberreihen, bewies, handelte es sich bei ihrem Fundort um einen Friedhof. Vor allem der Anblick der Frau ließ Leona frösteln. In ihrer Jugend und Zerbrechlichkeit wirkte sie wie ein halbes Kind. Selbst im Angesicht des Todes hatte sie nichts von ihrer einstigen Anmutigkeit eingebüßt. Sie trug ein Brautkleid. Der Schleier hatte sich aus ihrem schwarzen Haar gelöst. Ein hässlicher, tiefer Schnitt zog sich quer durch ihre Kehle. Neben ihr lag ein nur um wenige Jahre älterer Mann. Seine rechte Hand hielt den Griff des Dolches umklammert, den er sich, nachdem er der Frau neben sich die Kehle damit durchtrennte, in sein Herz gerammt hatte. Er trug einen knöchellangen Talar, der ihn als Geistlichen auswies. Sein zur Seite geneigter Kopf ließ nur sein Profil erkennen: ein Profil von gleichfalls klassischer Schönheit. Leona starrte wie gebannt auf die Fotografie, von der irgendeine geheime Kraft auszugehen schien. Sie strahlte irgendetwas Übersinnliches, beinahe schon Feierliches aus. Es gelang ihr nicht, sich ihres Bannes zu entziehen. Sie ging davon aus, dass ihr Großvater das Bild ganz bewusst zuoberst platziert hatte. Ein dunkles Geheimnis überschattete den Tod dieser beiden Menschen und Leona wusste, dass sie nicht eher ruhen würde, bis es ihr gelang, es zu lüften.
Als sie die Aufnahme beiseite legte, war draußen schon lange die Nacht angebrochen. Die weiteren Stunden verbrachte sie damit, den restlichen Inhalt der Mappe durchzugehen.
Ihr Großvater war in seiner Aufgabe als Rechtsmediziner zu dem vorliegendem Fall hinzugezogen worden. Er hatte schon etliche Opfer mit ähnlichen Verletzungen gesehen, doch dieser Fall weckte von Anfang an sein ganz spezielles Interesse. Nach Lage der Dinge hätte viel mehr Blut, in einem weitaus größeren Radius, aus den Wunden treten müssen. Das war das Erste, was ihm auffiel und ihn zu einer Obduktion veranlasste. Diese erbrachte definitiv, dass die Schnitt- und Stichverletzungen den Leichen erst nach Eintritt des Todes beigebracht worden waren. Es gelang ihm jedoch nicht herauszufinden, woran sie tatsächlich starben. Als einzige Auffälligkeit konnte er lediglich erhöhte Spuren von Diazepam, einem nur auf Rezept erhältlichen Sedativum, in ihrem Blut nachweisen. Doch diese reichten höchstens, um sie bewusstlos werden zu lassen. Um sie damit zu töten, hätte die Dosis höher angesetzt sein müssen. Bei seinen Bemühungen, den Fall aufzuklären, begann Albert Pirell auch damit, sich für die Hintergründe der Tat zu interessieren. Ein mehrseitiger, von ihm verfasster Bericht beschäftigte sich mit den Lebensverhältnissen und dem Umfeld der Leichen. Albert fand heraus, dass die Toten, Carmen Austen und David Küster, einander nicht kannten. Es war purer Zufall, dass David Küster in der Stadt weilte. Sein Aufenthalt diente dazu, die Familie eines Freundes zu besuchen. Vorher lebte er eine Zeit lang als Missionar in Afrika. Er war erst vor kurzem nach Deutschland zurückgekehrt. Weil der Gemeindepfarrer aufgrund eines plötzlichen Unwohlseins das Bett hüten musste, bat man ihn – wohl wissend um seine kirchliche Stellung – die Segnung zu übernehmen. Andernfalls hätte, weil sich so schnell kein Ersatz finden ließ, die Eheschließung verschoben werden müssen. David Küster erklärte sich dazu bereit, die Trauung zu vollziehen. Albert Pirells Unterlagen ergaben, dass die späteren Opfer sich erstmals in der Kirche zu Gesicht bekamen. Zeugenaussagen, die das untermauerten, waren beigefügt. Diese Tatsache machte den ganzen Fall noch undurchsichtiger. Die beiden lagen da wie ein Liebespaar. Im ersten Moment fühlte ich mich in eine Szene aus ›Romeo und Julia‹ versetzt, hatte Albert Pirell seinen Unterlagen handschriftlich hinzugefügt. Doch wie konnten sie ein Paar sein, wenn sie sich nicht kannten? Warum lag ihrem Mörder daran, es dennoch genau danach aussehen zu lassen? Diese Frage stellte sich auch Leona. Es ergab keinen Sinn. Carmen und Pascal waren ganz offensichtlich ein glückliches Paar, das ihre Liebe vor dem Traualtar besiegeln wollte. Ihr Vater beschrieb den Witwer als gebrochenen Mann, der nicht verstehen konnte, was da vor sich gegangen war. Pascal Austen verließ eigenen Angaben zufolge gegen zweiundzwanzig Uhr mit seiner jungen Frau die Hochzeitsfeier. Er schwor, dass sie gemeinsam einschliefen.
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