Maienfrost
1
Albert Pirell vermochte nur noch selten zwischen Realität und Traum zu unterscheiden. Eine heimtückische, mit geistiger Verwirrung einhergehende Krankheit, die nur noch gelegentlich lichte Phasen zuließ, hielt ihn umfangen. Seine in stumpfer Monotonie verbrachten Tage und Nächte in einem Pflegeheim reihten sich zu Wochen, die Wochen zu Monaten. Ans Bett gefesselt, dämmerte er die meiste Zeit dahin. Albert ging auf die achtzig zu. Er sehnte sich danach, friedlich einzuschlafen. Möglicherweise hätte sich sein Wunsch auch schon längst erfüllt, gäbe es da nicht dieses Detail, das ihn einfach nicht zur Ruhe kommen ließ. In seiner über vierzigjährigen Tätigkeit als Rechtsmediziner waren es meist die scheinbar unbedeutenden Kleinigkeiten, auf die es ankam. In Phasen klaren Verstandes quälte es ihn noch immer, dass es ihm nicht gelungen war, seinen letzten Fall zu lösen. Auch nach all der Zeit blieb dieser für ihn der perfekt ausgeführte Mord. Warum nur brachte jemand den Opfern, einem Liebespaar wie es auf den ersten Blick schien, postmortal so offensichtliche Verletzungen bei? Er verstand es nicht, damals genauso wenig wie heute. Er wusste nur, dass er in der kurzen Spanne, die ihm noch verblieb, den Fall aus eigener Kraft nicht mehr aufklären konnte. Diese Aufgabe musste jemand anderes übernehmen.
Albert Pirell wälzte sich unruhig in seinem Bett herum. Unverständliche Worte murmelnd, tauchte er zum wohl tausendsten Mal in längst vergangene Zeiten ein. Lichtjahre entfernt sah er sich mit Kittel, Handschuhe und Mundschutz bekleidet bei der Obduktion einer Leiche in den sterilen Kellergewölben des medizinischen Institutes stehen, für das er arbeitete. Der Fußboden war mit tristen dunkelgrauen Fliesen ausgelegt. Blendend weißes Licht, das von der Lampe, die über dem Metalltisch hing auf dem der Leichnam lag, herrührte, verlieh der Szenerie etwas Gespenstisches.
Im Laufe der Jahre hatte er so ziemlich alles gesehen: Leichen, die nach einem Sturz aus großer Höhe vom Gehsteig gekratzt werden mussten, die im Feuer gebraten oder die erstochen worden waren. Mit Ausnahme der Kinder, die ihn jedes Mal aufs Neue aus der Fassung brachten, glich eine Leiche der anderen. Sie stellte für ihn ein entkleidetes Exemplar, examiniert und katalogisiert dar. Würde er sie je als etwas anderes betrachtet haben, hätte er damit nur Albträumen Tür und Tor geöffnet.
Teilnahmslos konzentrierte er sich auf die junge Frau, die bleich und entblößt vor ihm lag. Er schätzte sie auf höchstens achtzehn Jahre. Trotz der Totenblässe besaß sie einen dunklen Teint. Hätte er ihre Hautfarbe beschreiben müssen, so hätte er sie als maurisch bezeichnet. Lockiges schwarzes Haar umgab ein herzförmiges Gesicht, das selbst jetzt noch nichts von seiner Schönheit eingebüßt hatte. Für Sekunden sah er sie wieder im Brautkleid vor sich. Der Spitzenschleier hatte sich aus ihrem Haar gelöst. Wäre da nicht dieser hässliche, tief klaffende Schnitt gewesen, der sich quer durch ihre Kehle zog, hätte man glauben können, sie schliefe friedlich. Ihr Anblick ließ ihn an Schneewittchen denken: so schwarz wie Ebenholz das Haar, so weiß wie Schnee das Kleid und so rot wie Blut die Wunde, die aber, obwohl es ganz offensichtlich danach aussehen sollte, nicht zum Tod geführt hatte.
Jeglichen Gedanken daran verdrängend, griff er zum Skalpell. Mit geübten Griffen machte er einen Schnitt über Brustkorb und Unterleib hinweg: zwei diagonale Schnitte von den Schultern zum unteren Ende des Brustbeins. Dann ein vertikaler Schnitt über den gesamten Unterleib bis zum Schambein. Er hatte die Form eines Y. Bei der stattlichen Anzahl an Jahren, die er als Rechtsmediziner schon auf dem Buckel hatte, schien Albert Pirell kaum noch etwas zu überraschen oder zu erregen.
Während er die Brusthöhle freilegte, sann er darüber nach, ob man sie betäubt hatte, bevor sie starb. Gründlich und vorausschauend wie er war, beschloss er, ein toxikologisches Gutachten zu erstellen. In seine Betrachtungen vertieft, vermeinte er sogar ihren Geruch wahrzunehmen: eine mit Formalin untersetzte Ausdünstung, der Tod und Verwesung anhafteten.
Mit klopfendem Herzen schreckte er aus seinen Erinnerungen auf. In einem Moment absoluter Klarheit erkannte er, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Mühsam öffnete er den Kasten seines Nachttisches, um ihm Block und Kugelschreiber zu entnehmen. Sein erstes Schreiben galt Herrn Wollschläger, seinem Notar. Das
Weitere Kostenlose Bücher