Maigret - 31 - Mein Freund Maigret
Mittelmeers.
»Boisvert, der Oberkommissar, ist ein anständiger Kerl, den ich von früher kenne. Es ist nicht seine Art, sich aufzuplustern. Er ist eben am Tatort eingetroffen, muß aber heute abend schon wieder abreisen. Wie Lechat nimmt er an, daß das Gespräch über Sie das Drama ausgelöst hat. Er glaubt sogar fest, daß man mit Marcellin gewissermaßen Sie treffen wollte, verstehen Sie? Ein Mann, der einen so tiefen Groll gegen Sie hegt, daß er sich an jemand vergreift, der Ihr Freund zu sein behauptet und Sie verteidigt.«
»Gibt es solche Leute in Porquerolles?«
»Das eben ist es ja, was Boisvert sich gar nicht erklären kann. Auf einer Insel kennt man jeden. Niemand kann dort ankommen oder abfahren, ohne daß es jeder weiß. Bisher hat man gegen keinen Verdacht. Oder aber man müßte jemand gegen alle Wahrscheinlichkeit verdächtigen. Was meinen Sie dazu?«
»Ich glaube, Mr. Pyke hätte Lust, eine Reise in den Süden zu machen.«
»Und Sie?«
»Ich wohl auch, wenn ich allein dort hinfahren könnte.«
»Wann werden Sie fahren?«
»Ich werde den Nachtzug nehmen.«
»Mit Mr. Pyke?«
»Mit Mr. Pykel«
Ob der Engländer glaubte, die französische Polizei verfüge über starke Wagen, um sich auf schnellstem Wege an die Stätte eines Verbrechens begeben zu können?
Er mußte jedenfalls annehmen, daß die Kommissare der Kriminalpolizei bei ihren Reisen über unbegrenzte Mittel verfügen. Hatte Maigret recht daran getan? Allein hätte er sich mit einem Polstersitz begnügt. Aber an der Gare de Lyon zögerte er dann. Und im letzten Augenblick erstand er schließlich zwei Schlafwagenplätze.
Der Zug war äußerst luxuriös. Im Gang begegneten ihnen Reisende, denen nichts zu fehlen schien und die imponierendes Gepäck mit sich führten. Eine mit Blumen beladene elegante Menge begleitete eine Filmschauspielerin zum Zug.
»Das ist der Blaue Zug«, murmelte Maigret, wie um sich zu entschuldigen.
Wenn er nur gewußt hätte, was sein Kollege dachte! Obendrein mußten sie sich voreinander ausziehen, und am nächsten Morgen würden sie den winzigen Waschraum miteinander teilen müssen.
»Jedenfalls«, sagte Mr. Pyke, schon in Pyjama und Morgenrock, »beginnt also eine Untersuchung.«
Was wollte er eigentlich damit sagen? Sein Französisch hatte etwas Eingelerntes, daß man immer nach einem verborgenen Sinn in seinen Worten suchte.
»Das ist eine Untersuchung, ja.«
»Haben Sie Marcellins Karteikarte kopieren lassen?«
»Nein. Ich muß Ihnen gestehen, ich habe nicht daran gedacht.«
»Machen Sie sich Gedanken, was aus der Frau, Ginette war doch wohl der Name, geworden ist?«
»Nein.«
War es ein vorwurfsvoller Blick, den Mr. Pyke ihm zuwarf?
»Haben Sie einen Blanko-Verhaftungsbefehl bei sich?«
»Nein, auch nicht. Nur eine Bitte um Rechtshilfe, auf Grund deren ich die Leute vorladen und verhören kann.«
»Kennen Sie Porquerolles?«
»Ich bin noch nie dort gewesen. Ich kenne überhaupt den Süden kaum. Ich habe mal eine Untersuchung in Antibes und Cannes durchgeführt und erinnere mich vor allem an eine drückende Hitze und ein ewiges Schlafbedürfnis, das mich dort verfolgte.«
»Lieben Sie das Mittelmeer nicht?«
»Grundsätzlich liebe ich die Gegenden nicht, wo ich die Arbeitslust verliere.«
»Weil Sie gern arbeiten, nicht wahr?«
»Ich weiß es nicht.«
Das stimmte. Einerseits fluchte er jedesmal, wenn ein Fall den täglichen Trott unterbrach, andererseits wurde er, wenn man ihn einige Tage in Frieden ließ, schlecht gelaunt und wie beklommen.
»Schlafen Sie gut in der Eisenbahn?«
»Ich schlafe überall gut.«
»Können Sie beim Rattern des Zuges besser denken?«
»Ich denke so wenig, wissen Sie.«
Es war ihm peinlich, daß das ganze Abteil voll von seinem Pfeifenqualm war, um so mehr, als der Engländer nicht rauchte.
»Jedenfalls, Sie wissen noch nicht, an welchem Zipfel Sie die Sache anpacken werden.«
»Nicht im geringsten. Ich weiß nicht einmal, ob es solch einen Zipfel gibt.«
Man spürte, daß Mr. Pyke jedes Wort Maigrets registrierte, sie alle in seinem Gehirn gut eingeordnet hatte, um sich später ihrer bedienen zu können. Das war höchst unangenehm. Maigret sah ihn schon, wie er nach seiner Rückkehr nach Scotland Yard seine Kollegen zusammenrief (warum nicht an einem schwarzen Tisch?) und ihnen mit seiner deutlichen Stimme ankündigte: Eine Untersuchung des Kommissars Maigret …
Und wenn dies ein Fehlschlag werden würde? Wenn es eine jener Geschichten
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