Maigret - 43 - Hier irrt Maigret
Wohnung frei geworden war.«
»Kam Ihnen das nicht merkwürdig vor?«
»Weshalb?«
Die Frage überraschte ihn.
»Liebten Sie Louise?«
»Hören Sie, Monsieur Maigret, Sie gebrauchen dieses Wort nun schon zum zweitenmal. Wir Mediziner kennen es nicht.«
»Brauchten Sie sie?«
»Physisch, ja. Muß ich Ihnen das wirklich erklären? Ich bin zweiundsechzig.«
»Ich weiß.«
»Dann kennen Sie die ganze Geschichte.«
»Und Pierrot? Waren Sie nicht eifersüchtig auf ihn?«
»Es wäre mir lieber gewesen, wenn es ihn nicht gegeben hätte.«
Wie bei Lucile Decaux stand Maigret jetzt auf, um ein hinuntergefallenes Holzscheit zurechtzurücken. Er hatte Durst. Der Professor kam gar nicht auf den Gedanken, ihm etwas zu trinken anzubieten. Der Marc, den er nach dem Essen getrunken hatte, klebte ihm noch am Gaumen, und außerdem hatte er ununterbrochen geraucht.
»Sind Sie ihm jemals begegnet?« fragte er.
»Wem?«
»Pierrot.«
»Ein einziges Mal. Gewöhnlich richteten sie es so ein, daß das nicht vorkam.«
»Und was empfand Lulu für Sie?«
»Was hätte sie empfinden sollen? Ich denke, Sie kennen ihre Geschichte. Natürlich sprach sie von Dankbarkeit und Zuneigung. Die Wahrheit ist einfacher. Sie wollte nicht wieder in der Misere leben. Sie wissen ja, wie das ist. Die Menschen, die wirklich Hunger gelitten haben, die im schwärzesten Sinn des Wortes arm gewesen sind und sich auf irgendeine Weise aus diesem Zustand befreit haben, würden alles, aber auch alles tun, um nicht wieder ins alte Elend zu geraten.«
Das stimmte, und niemand wußte es besser als Maigret.
»Liebte sie Pierrot?«
»Wenn Sie unbedingt auf diesem Wort bestehen!« seufzte der Professor resigniert. »Irgend etwas Sentimentales mußte es ja wohl in ihrem Leben geben. Und außerdem mußte sie sich Probleme schaffen. Ich habe Ihnen vorhin schon gesagt, daß Frauen das Bedürfnis haben, sich wichtig zu fühlen. Das ist zweifellos der Grund dafür, warum sie sich das Dasein komplizieren, sich Fragen stellen und sich immer einbilden, eine Wahl treffen zu müssen.«
»Eine Wahl? Wieso?« fragte Maigret mit einem leisen Lächeln, das seinen Gesprächspartner dazu überreden sollte, seinen Gedanken präziser zu formulieren.
»Louise bildete sich ein, die Wahl zwischen mir und dem Musiker zu haben.«
»Hatte sie diese Wahl nicht?«
»Nein. Warum, habe ich Ihnen bereits gesagt.«
»Hat Sie nie gedroht, Sie zu verlassen?«
»Manchmal behauptete sie, mit diesem Gedanken zu spielen.«
»Fürchteten Sie nicht, daß sie es tun könnte?«
»Nein.«
»Und sie hat auch nicht versucht, Sie zu einer Heirat zu überreden?«
»So weit ging ihr Ehrgeiz nicht. Ich bin überzeugt, daß der Gedanke, Madame Gouin zu werden, sie ein wenig erschreckt hätte. Was sie brauchte, war materielle Sicherheit. Eine geheizte Wohnung, drei Mahlzeiten am Tag, anständige Kleider.«
»Was wäre aus ihr geworden, wenn es Sie nicht mehr gegeben hätte?«
»Ich hatte eine Lebensversicherung zu ihren Gunsten abgeschlossen.«
»Auch eine zugunsten von Mademoiselle Decaux?«
»Nein. Das ist unnötig. Wenn ich nicht mehr bin, wird sie sich genauso an meinen Nachfolger hängen, wie sie sich an mich gehängt hat. Es wird sich nichts in ihrem Leben verändern.«
Sie wurden vom Läuten des Telefons unterbrochen. Gouin wollte aufstehen, um den Hörer abzunehmen, hielt jedoch inne.
»Das wird Ihr Inspektor sein.«
Es war tatsächlich Lucas, der vom Polizeirevier Batignolles aus telefonierte, das sich in der Nähe von Désirée Braults Wohnung befand.
»Ich habe die Waffe, Chef. Zuerst hat sie behauptet, sie wisse nicht, wovon ich spreche.«
»Was hast du mit ihr gemacht?«
»Ich habe sie mitgenommen.«
»Laß sie zum Quai bringen. Wo hat sie den Revolver gefunden?«
»Sie behauptet immer noch, er habe auf dem Tisch gelegen.«
»Woraus hat sie geschlossen, daß er dem Professor gehört?«
»Sie sagt, das liege auf der Hand. Mehr will sie nicht sagen. Sie ist wütend. Sie hat versucht, mich zu kratzen. Und er – was sagt er denn?«
»Bisher nichts Endgültiges. Wir unterhalten uns.«
»Soll ich zu Ihnen kommen?«
»Bring zuerst die Waffe ins Laboratorium und laß nachprüfen, ob keine Fingerabdrücke vorhanden sind. Dabei kannst du deine Verhaftete gleich mitnehmen.«
»Jawohl, Chef«, seufzte Lucas ohne Begeisterung.
Jetzt erst dachte Gouin daran, ihm etwas zu trinken anzubieten.
»Sie nehmen doch einen Cognac?«
»Gern.«
Er drückte auf einen Klingelknopf. Gleich
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