Maigret bei den Flamen
Familientreffen hineinzugeraten.
»Was gibt es denn?«
»Ich muß Sie sprechen.«
»Erlauben Sie?«
Und er ging mit dem Inspektor in den Laden, wo er sich mit den Ellenbogen auf die Theke aufstützte.
»Ich kann diese Leute nicht ausstehen!«
Machère wies gereizt mit dem Kinn auf die Tür des Eßzimmers.
»Allein schon der Geruch ihres Kaffees und ihrer To r ten …«
»Ist es das, was du mir erzählen wolltest?«
»Nein! Ich habe Nachrichten aus Brüssel. Der Zug ist pünktlich dort angekommen …«
»Aber der Schiffer saß nicht mehr drin!«
»Sie wußten das schon?«
»Ich hatte es mir gedacht! Hast du ihn für einen Schwachkopf gehalten? Ich nicht! Er ist bestimmt in i r gendeinem kleinen Bahnhof ausgestiegen, hat einen a n deren Zug genommen, ist noch einmal umgestiegen … Heute abend ist er vielleicht schon in Deutschland, vielleicht in Amsterdam, möglicherweise sogar in Paris …«
Aber Machère sah ihn grinsend an.
»Ja, wenn er Geld hätte!«
»Was willst du damit sagen?«
»Daß ich Erkundigungen über diesen Cassin eingezogen habe. Geste rn morgen war er nicht in der Lage, se i ne Zechschulden im Bistro zu bezahlen, und man hat ihm nichts mehr zu trinken gebracht. Aber damit nicht genug! Er schuldete allen und jedem Geld. Das ging so weit, daß die Händler schon beschlossen hatten, sein Schiff nicht auslaufen zu lassen …«
Maigret betrachtete seinen Kollegen mit völliger Gleichgültigkeit.
»Und?«
»Dabei habe ich es nicht bewenden lassen. Und das war nicht leicht, denn wir haben Sonntag, und die meisten Leute sind nicht zu Hause. Ich bin sogar ins Kino gegangen, um bestimmte Leute zu befragen …«
Maigret rauchte seine Pfeife und vertrieb sich die Zeit damit, Gewichte auf die beiden Waagschalen zu legen und das Gleichgewicht wieder herzustellen.
»Ich habe heraus bekommen, daß Gérard Piedbœuf sich gestern zweitausend Francs geliehen hat, und als Sicherheit hat er eine Bürgschaftserklärung seines Vaters beigebracht, denn seine eigene Unterschrift ist nichts mehr wert …«
»Haben die beiden sich getroffen?«
»Genau! Ein Zöllner hat Gérard Piedbœuf und Cassin gesehen, wie sie zusammen in der Nähe des belg i schen Zolls am Ufer entlanggingen.«
»Um wieviel Uhr war das?«
»Ungefähr um zwei …«
»Hervorragend!«
»Was ist hervorragend? Denn wenn Piedbœuf dem Schiffer Geld gegeben hat …«
»Vorsicht vor Schlußfolgerungen, Machère! Das ist sehr gefährlich, immer gleich Schlüsse zu ziehen.«
»Jedenfalls ist der Mann, der noch am Morgen keinen Sou in der Tasche hatte, am Nachmittag mit dem Zug weggefahren, und da hatte er Geld in der Tasche. Ich bin zum Bahnhof gegangen. Er hat seine Fahrkarte mit e i nem Tausendfrancschein bezahlt. Er soll noch mehr d a von gehabt haben.«
»Noch mehr oder noch einen ?«
»Vielleicht einen, vielleicht auch mehr … Was würden Sie jetzt an meiner Stelle tun?«
»Ich?«
»Ja.«
Maigret seufzte, klopfte seine Pfeife am Absatz aus und zeigte auf die Tür des Eßzimmers:
»Ich würde mit hineingehen und einen anständigen Genever trinken. Vor allem, weil man uns etwas auf dem Klavier vorspielen wird!«
»Ist das alles, was Sie mir …«
»Nun komm schon! Jetzt um diese Zeit gibt es in der Stadt doch nichts mehr für dich zu tun … Wo ist G é rard Piedbœuf?«
»Mit einer Fabrikarbeiterin im Kino Scala.«
»Ich wette, daß sie eine Loge genommen haben!«
Maigret lachte still vor sich hin und schubste seinen Kollegen vor sich her in das Eßzimmer, in dem das Dämmerlicht die Konturen zu verwischen begann. Eine dünne Rauchsäule stieg langsam aus dem Sessel von van de Weert auf. Madame Peeters war in der Küche damit beschäftigt, das Geschirr einzuräumen. Marguerite saß am Klavier und ließ ihre Finger lässig über die Tasten gleiten.
»Möchten Sie wirklich, daß ich spiele?«
»Ja, gewiß! Setz dich hierher, Machère …«
Joseph lehnte an der Wand, den rechten Ellenbogen auf den Kaminsims gestützt, und starrte auf das graugrüne Fenster.
Der Winter mag scheiden,
der Frühling vergeh ’n,
der Sommer mag verwelken,
das Jahr verweh’n …
Der Stimme fehlte es an Kraft. Marguerite mußte sich anstrengen, bis zum Ende durchzuhalten. Zweimal griff sie einen falschen Akkord.
Mein holder Verlobter,
gewiß, du wirst mein …
Anna war nicht mehr im Zimmer. Sie war auch nicht in der Küche, in der Madame Peeters sich so leise wie mö g lich zu schaffen machte, um die Musik nicht
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