Neobooks - Hinter verborgenen Pfaden: Der geheime Schlüssel I (German Edition)
Prolog
D ie Hoffnung eines ganzen Geschlechts ruhte auf dem winzigen Geschöpf, das nackt und zerbrechlich wie ein Vogeljunges im Moos lag. Im Mondlicht schimmerten die zarten Glieder wie Tau, und es wimmerte leise und kraftlos.
Jar’jana sah es an.
Es war das erste Kind, das nach Jahrzehnten im Reich der Elben geboren wurde, und die vorgeburtlichen Prophezeiungen verhießen ihm Kraft und Liebe gepaart mit göttlichem Beistand.
Sie hatte die Hoffnung in sich getragen und sie behütet. Sie hatte darauf vertraut, dass alle guten Vorhersagen eintrafen. Doch angesichts dieses zerbrechlichen und schwachen Wesens, das sie alleine hier im Wald zur Welt gebracht hatte und das jetzt mehr tot als lebendig dalag, schwand all ihre Zuversicht.
Hier und jetzt wurde ihr klar, dass sie noch nie ein Kind gesehen hatte. Sie wusste nicht, was sie tun musste.
Es gab keine Hoffnung. Sie hatte keine Kraft mehr. Es war vorbei.
Von den übermächtigen Erwartungen ihrer Familie erdrückt und überhäuft mit den Ratschlägen der Ältesten und Weisesten ihres Volkes, hatte sie sich auf den Weg der Besinnung gemacht, um sich auf die bevorstehende Geburt auf der Warte vorzubereiten. Die dreizehn vergangenen Monde waren eine schwere Last für sie gewesen.
Ihren Aufbruch hatte sie so lange, wie es nur ging, hinausgezögert. Ihr Gefährte Fari’jaro war nicht zurückgekehrt.
Seit Tagen konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass etwas Furchtbares geschehen war.
Wie oft hatte sie sich gefragt, ob sie ihn nicht doch hätte bitten sollen, bei ihr zu bleiben. Aber sie hatte ihm nicht die Möglichkeit nehmen wollen, noch einmal frei von Verantwortung an einer Jagd teilzunehmen. Auch war nicht zu erwarten gewesen, dass diese Jagd so lange dauern würde.
Nichts war so verlaufen wie geplant, und jetzt war auch noch das Kind zu früh gekommen.
Laut den Berechnungen von Ala’na der Weisen wären noch vier Wochen Zeit gewesen. Vier Wochen, in denen Jar’jana die Ruhe des Blauen Waldes in sich aufnehmen sollte, um dann auf der Warte ihre Seele mit der des Kindes in Einklang zu bringen, bevor die Zeit der Geburt und des Lebens begann.
Im geborgenen Kreis ihrer Liebsten, unter dem fürsorglichen Blick der drei Schicksalsschwestern, hätte sie schließlich das Kind in die Arme nehmen sollen.
Doch die Kleine hatte sich nicht an die Rituale der Elben gehalten.
Vorsichtig streckte Jar’jana die Hand nach ihrer winzigen Tochter aus und berührte ihre Wange, die sich anfühlte wie der Flügel eines Schmetterlings. Sanft strich sie ihr über die kleine Brust und über die Ärmchen.
»Lume’tai«, flüsterte Jar’jana. Sie nahm ihr Kind auf den Arm und hielt es unsicher.
Sie wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte. Schließlich löste sie Lume’tai von ihrem Körper und betrachtete das friedliche Gesicht. Die Kleine war makellos schön. Dünne Härchen glitzerten auf ihrem Kopf, die Hände waren zu winzigen Fäustchen geballt, die Fingernägel wie Perlen am Ende jeden Fingers. Jar’jana strich ihr mit einer Hand über die Wange, und Lume’tai schlug die Augen auf. Wie gebannt starrte die Elbin ihr Kind an. Solche Augen hatte sie noch nie gesehen.
»Wirst du leben?«, hauchte sie. Die Augenlider des Kindes flatterten. Beim Einatmen röchelte es in ihren Lungen.
»Oh, Lume’tai!«
Tränen flossen über Jar’janas Wangen, perlten an der samtenen Haut des Kindes ab und versickerten im Waldboden.
Versunken streichelte sie den kleinen Kopf, die Arme, die Beine. Ihre Finger erkundeten die zarte, fast durchsichtige Haut, die kühl war und stellenweise noch feucht. Jar’jana erschrak. Weder Kälte noch Hitze konnte einem erwachsenen Elben etwas anhaben, aber galt das auch für ein Neugeborenes, ein zu früh Geborenes?
Sie riss einen großen Streifen aus ihrem Unterrock und wickelte Lume’tai darin ein, dann legte sie sich, ihr Kind im Arm, auf den weichen Waldboden und versuchte, zu Kräften zu kommen.
Sie erwachte von starken Schmerzen im Unterleib. Durch das dichte Blätterdach konnte sie den Morgen heraufziehen sehen. Jar’jana lauschte. Irgendetwas störte den Frieden des Waldes, aber sie konnte nicht erkennen, was es war.
Lume’tais Köpfchen war im Schlaf leicht zur Seite gefallen. Vorsichtig legte Jar’jana sie ins Moos und versuchte aufzustehen. Stöhnend sank sie zurück. Die Schmerzen waren furchtbar, sie keuchte.
Sie sammelte ihre letzten Kräfte. Langsam richtete sie sich auf. Alles um sie herum schien sich
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