Maigret bei den Flamen
Eines schönen Tages hatte er, als er in sein Büro kam, dort diese Unbekannte angetroffen, die schon seit zwei oder drei Stunden auf ihn wartete, ohne daß der Bürodiener sie davon hatte abbringen können.
»Es handelt sich um eine persönliche Angelegenheit!« hatte sie mit Nachdruck erklärt, als Maigret sie in G e genwart von zwei Inspektoren nach ihrem Anliegen ha t te fragen wollen.
Sobald sie allein im Zimmer waren, hatte sie ihm einen Brief übergeben. Maigret hatte die Handschrift eines Vetters seiner Frau erkannt, der in Nancy wohnte.
Mein lieber Maigret,
Mademoiselle Anna Peeters hat mich auf Empfehlung meines Schwagers aufgesucht, der sie schon seit rund zehn Jahren kennt. Sie ist eine sehr ernstzunehmende junge Dame, die dir ihr Mißgeschick selbst erzählen wird. Tu für sie, was du kannst.
»Sie wohnen in Nancy?«
»Nein, in Givet!«
»Aber dieser Brief …«
»Ich war extra nach Nancy gefahren, bevor ich nach Paris kam. Ich wußte, daß mein Vetter einen hohen B e amten bei der Polizei kennt …«
Sie war keine gewöhnliche Bittstellerin. Ihr Benehmen hatte nichts Unterwürfiges an sich, und sie sprach frei heraus , ohne den Blick zu senken, wie jemand, der verlangt, was ihm zusteht.
»Wenn Sie uns nicht helfen können, dann sind wir verloren, meine Eltern und ich, und es wird einen der entsetzlichsten Justizirrtümer geben!«
Maigret hatte ihren Bericht in einigen Notizen festgehalten. Eine ziemlich undurchsichtige Familienang e legenheit.
Die Peeters hatten ein Lebensmittelgeschäft an der belgischen Grenze. Drei Kinder: Anna, die im Geschäft half, Maria, die Lehrerin war, und Joseph, der in Nancy Jura studierte …
Joseph hatte ein Kind mit einem Mädchen aus der Gegend. Das Kind war drei Jahre alt. Nun war dieses junge Mädchen plötzlich verschwunden, und man verdächtigte die Peeters, sie umgebracht zu haben oder sie gefangenzuhalten …
Dienstlich hatte Maigret mit der Angelegenheit nichts zu tun: Ein Kollege aus Nancy bearbeitete die Sache. Maigret hatte ihm telegrafiert und die kategorische Antwort erhalten:
Peeters eindeutig schuldig Stop Verhaftung in Kuerze
Das hatte für Maigret den Ausschlag gegeben. Er war ohne dienstlichen Auftrag und ohne jede offizielle Befugnis nach Givet gefahren. Und seit seiner Ankunft am Bahnhof bevormundete ihn nun diese Anna, die zu beobachten er nicht müde wurde.
Der Strom war reißend. Das Wasser bäumte sich vor j e dem Pfeiler der Brücke zu lärmenden Kaskaden auf und führte ganze Bäume mit sich fort.
Der Wind, der sich flußaufwärts in das Tal der Maas stürzte, wühlte das Wasser zu unerwarteten Höhen e m por und warf richtige Wellen auf.
Es war drei Uhr nachmittags, und die Dunkelheit brach schon herein.
In den fast menschenleeren Straßen war es zugig. Die wenigen Passanten hasteten vorbei, und Anna war nicht die einzige, die sich die Nase putzte.
»Sehen Sie dieses Gäßchen hier links …«
Die junge Frau bedeutete ihm diskret, einen Augenblick stehenzubleiben, und wies mit einer kaum wah r nehmbaren Handbewegung auf das zweite Haus in der Gasse. Ein ärmliches, zweistöckiges Haus. Hinter einem der Fenster sah man bereits Licht – das Licht einer P e troleumlampe.
»Dort wohnt sie.«
»Wer?«
»Sie! Germaine Piedbœuf . Das Mädchen, das …«
»… ein Kind von Ihrem Bruder hat?«
»Wenn es überhaupt von ihm ist! Das ist nicht einmal bewiesen … Sehen Sie!«
In einem Hauseingang sah man ein Liebespaar stehen: ein Mädchen ohne Hut, wahrscheinlich eine kleine Fabrikarbeiterin, und den Rücken eines Mannes, der sie umarmte.
»Ist sie das?«
»Nein. Sie ist doch verschwunden! Aber sie sind alle vom gleichen Schlag, verstehen Sie? Sie hat es geschafft, meinem Bruder einzureden …«
»Sieht das Kind ihm denn nicht ähnlich?«
Und sie darauf , trocken:
»Es sieht seiner Mutter ähnlich … Kommen Sie! Diese Leute hier liegen ständig hinter ihren Gardinen auf der Lauer …«
»Hat sie Verwandte?«
»Ihren Vater, der Nachtwächter in der Fabrik ist, und ihren Bruder Gérard …«
Das kleine Haus und besonders das von der Petroleumlampe erleuchtete Fenster hatten sich für immer in das Gedächtnis des Kommissars eingeprägt.
»Sie kennen Givet nicht?«
»Ich bin nur einmal durchgefahren, ohne auszusteigen.«
Ein endloser, sehr breiter Kai mit Pollern in Abständen von jeweils zwanzig Metern, an denen die Kähne festmachten. Einige Lagerhäuser. Ein niedriges, beflag g tes Gebäude.
»Der
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