Maigret und das Schattenspiel
als ich meinen Mülleimer ausleeren ging, habe ich einen Blick hierher geworfen. Er saß und schrieb. Man konnte genau sehen, daß er einen Federhalter oder Bleistift in der Hand hielt …«
»Und wann hat der Mord …«
»Einen Moment! Ich bin hinaufgegangen, um mich zu erkundigen, wie es Madame de Saint-Marc ging … Als ich zurückkam, habe ich noch einmal hingeschaut. Er saß da wie jetzt, und ich habe geglaubt, er wäre eingeschlafen …«
Maigret begann ungeduldig zu werden.
»Dann, eine Viertelstunde später …«
»Saß er immer noch an derselben Stelle, ich weiß! Kommen Sie zur Sache!«
»Das ist alles. Ich habe mich vergewissern wollen … Ich habe an die Tür des Büros geklopft, und als niemand antwortete, bin ich hineingegangen … Er ist tot, und alles ist voll Blut …«
»Warum haben Sie das nicht auf dem Kommissariat gemeldet? Das ist doch gleich um die Ecke, Rue de Béarn …«
»Weil sie dann alle in Uniform hergekommen wären und das Haus auf den Kopf gestellt hätten! Ich sagte Ihnen doch, daß Madame de Saint-Marc …«
Maigret hatte beide Hände in den Taschen und die Pfeife zwischen den Zähnen. Er betrachtete die Fenster der ersten Etage und hatte den Eindruck, daß es nicht mehr lange dauern konnte, denn die Schatten liefen aufgeregter hin und her. Man hörte, wie eine Tür geöffnet wurde und Schritte die Treppe herunterkamen. Eine hochgewachsene Gestalt erschien im Hof, und die Concierge, die den Arm des Kommissars berührte, flüsterte respektvoll:
»Monsieur de Saint-Marc … Ein ehemaliger Botschafter …«
Der Mann, dessen Gesicht nicht zu erkennen war, blieb stehen, ging wieder ein paar Schritte und blieb erneut stehen, während er unablässig zu den Fenstern seiner eigenen Wohnung hinaufsah.
»Man hat ihn sicher hinausgeschickt, so wie vorhin auch schon … Kommen Sie … Meine Güte! Schon wieder die beiden mit ihrem Plattenspieler! Und das genau über der Wohnung der Saint-Marcs!«
Ein kleineres, schwächer erleuchtetes Fenster im zweiten Stock. Es war geschlossen, und die Musik war eher zu ahnen als zu hören.
Die Concierge, flachbrüstig, nervös, mit geröteten Augen und unruhigen Händen, ging zum hinteren Ende des Hofes und zeigte auf eine kleine Treppe und eine halbgeöffnete Tür.
»Sie können ihn gleich links sehen … Ich möchte lieber nicht noch einmal hineingehen …«
Ein nichtssagender Büroraum. Helle Möbel. Eine einfarbige Tapete.
Und ein Mann von fünfundvierzig Jahren in einem Sessel. Sein Kopf lag auf den vor ihm verstreuten Papieren. Die Kugel hatte ihn mitten in die Brust getroffen.
Maigret lauschte: Die Concierge stand immer noch draußen und wartete auf ihn, während Monsieur de Saint-Marc weiterhin im Hof auf und ab ging. Von Zeit zu Zeit überquerte ein Bus den Platz, und der Lärm ließ die anschließende Stille noch absoluter erscheinen.
Der Kommissar berührte nichts. Er vergewisserte sich nur, daß die Waffe nicht im Büro geblieben war, und sah sich drei oder vier Minuten lang um, während seine Pfeife kleine Rauchwolken ausstieß. Dann ging er mit grimmigem Gesicht hinaus.
»Und?«
Die Concierge war immer noch da und sprach sehr leise.
»Na was schon, er ist tot!«
»Eben haben sie Monsieur de Saint-Marc hinaufgerufen …«
In der Wohnung gab es ein Durcheinander. Türen schlugen. Irgend jemand lief durch das Zimmer.
»Sie ist so zart!«
»Jaja!« knurrte Maigret und kratzte sich hinter dem Kragen. »Nur tut das jetzt nichts zur Sache. Haben Sie eine Ahnung, wer in das Büro eingedrungen sein könnte?«
»Ich? Wieso?«
»Ich bitte Sie! Von Ihrer Loge aus müßten Sie die Mieter doch ein und aus gehen sehen!«
»Müßte ich, ja! Wenn der Eigentümer mir eine vernünftige Loge zur Verfügung stellen und mit der Beleuchtung nicht so knausern würde … Mit Mühe kann ich Schritte hören und abends Schatten sehen … Einige Mieter kann ich an ihren Schritten erkennen …«
»Haben Sie nach sechs Uhr nichts Ungewöhnliches bemerkt?«
»Nichts! Fast alle Mieter sind gekommen, um ihre Mülleimer auszuleeren. Hier, links neben meiner Loge … Sehen Sie die Müllkästen? Nach der Hausordnung dürfen sie sie nicht vor sieben Uhr abends benutzen …«
»Und niemand ist durch die Toreinfahrt hereingekommen?«
»Wie soll ich das wissen? Man merkt, daß Sie das Haus nicht kennen. Hier wohnen achtundzwanzig Mietparteien, die Firma Couchet mit ihrem ständigen Kommen und Gehen nicht mitgerechnet …«
Schritte im Hauseingang.
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