Maigret und das Schattenspiel
drehte den Schlüssel herum.
Maigret warf einen letzten Blick in das Zimmer. Martin wagte nicht, sich zu rühren. Seine Frau saß aufrecht im Bett, mager, mit Schulterblättern, die sich unter dem Nachthemd abzeichneten, und verfolgte jede Bewegung des Kommissars mit den Augen.
Sie war plötzlich so ernst, so ruhig, daß man sich besorgt fragte, was sie jetzt im Schilde führte.
Maigret erinnerte sich an bestimmte Blicke während der vorausgegangenen Szene, an bestimmte Bewegungen ihrer Lippen. Und zur gleichen Zeit wie Martin ahnte er plötzlich, was sich da abspielte.
Sie waren machtlos dagegen. Das vollzog sich außerhalb ihrer Sphäre, wie ein böser Traum.
Madame Martin war mager, sehr mager. Und ihre Züge verzerrten sich noch qualvoller. Was betrachtete sie, an Stellen, an denen es außer den banalen Gegenständen des Zimmers nichts zu sehen gab?
Was verfolgten ihre Blicke so aufmerksam quer durch den Raum?
Ihre Stirn legte sich in Falten. Ihre Schläfen pochten. Martin schrie:
»Ich habe Angst!«
Im Haus hatte sich nichts verändert. Ein Lieferwagen fuhr in den Hof, und man hörte die schrille Stimme der Concierge.
Es schien, als unternehme Madame Martin eine gewaltige Anstrengung, ganz allein, um ein unzugängliches Gebirge zu überwinden. Zweimal machte ihre Hand eine abwehrende Geste, als wollte sie etwas von ihrem Gesicht wegscheuchen. Schließlich schluckte sie schwer und lächelte dann wie jemand, der das Ziel erreicht hat:
»Irgendwann werden Sie alle doch noch zu mir kommen und um ein bißchen Geld betteln … Aber ich werde meinen Notar anweisen, Ihnen nichts zu geben …«
Martin schlotterte am ganzen Leib. Er begriff, daß dies kein vorübergehender Anfall, keine bloße Fieberphantasie war.
Sie hatte endgültig den Verstand verloren!
»Man kann es ihr nicht übelnehmen. Sie war niemals ganz so wie die anderen, nicht wahr?« jammerte er.
Er wartete darauf, daß der Kommissar zustimmte.
»Armer Martin!«
Martin weinte! Er ergriff die Hand seiner Frau und drückte sie gegen sein Gesicht. Sie stieß ihn zurück. Sie zeigte ein überlegenes, verächtliches Lächeln.
»Nicht mehr als fünf Francs auf einmal … Ich habe zu viel mitgemacht, als daß …«
»Ich werde das Sainte-Anne-Krankenhaus anrufen …« sagte Maigret.
»Glauben Sie? Ist es … muß sie in eine geschlossene Anstalt?«
Die Macht der Gewohnheit? Martin geriet in Panik bei der Vorstellung, seine Wohnung zu verlassen, diese Atmosphäre der Vorwürfe und täglichen Streitereien, dieses schäbige Leben, diese Frau, die ein letztes Mal zu denken versuchte, sich dann aber entmutigt und geschlagen hinlegte und in ihrem Wahn stammelte:
»Man soll mir den Schlüssel bringen …«
Einige Minuten später durchquerte Maigret wie ein Fremder das Gewimmel der Straße. Er hatte furchtbare Kopfschmerzen, was selten vorkam, und er ging in eine Apotheke, um eine Tablette zu nehmen.
Er sah nichts um sich herum. Die Geräusche der Stadt vermischten sich mit anderen, vor allem mit Stimmen, die in seinem Schädel nachhallten.
Ein Bild verfolgte ihn mehr als alle anderen: Madame Martin, die aufstand und die Kleidungsstücke ihres Mannes von der Erde aufhob, um das Geld zu suchen! Und Martin, der ihr von seinem Bett aus zusah!
Der forschende Blick seiner Frau!
» Ich habe es in die Seine geworfen … «
Von diesem Moment an war irgend etwas zerbrochen. Das heißt, irgend etwas in ihrem Kopf hatte schon immer einen Sprung gehabt! Schon damals, als sie noch in der Konditorei in Meaux lebte!
Nur hatte man das nicht merken können. Sie war ein junges, beinahe hübsches Mädchen! Niemand machte sich Sorgen wegen ihrer zu schmalen Lippen …
Und Couchet heiratete sie!
»Was soll aus mir werden, wenn dir etwas zustößt?«
Maigret mußte warten, ehe er den Boulevard Beaumarchais überqueren konnte. Unwillkürlich dachte er an Nine.
»Sie wird nichts bekommen! Nicht einen Sou …« murmelte er halblaut. »Das Testament wird für nichtig erklärt. Und es ist Madame Couchet, geborene Dormoy, die …«
Der Oberst hatte die notwendigen Schritte wahrscheinlich schon eingeleitet. Das war nur zu verständlich. Madame Couchet würde alles bekommen! Alle die Millionen …
Sie war eine Dame, die es verstehen würde, ihren Rang zu wahren …
Maigret stieg langsam die Treppe hoch und öffnete die Tür seiner Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir.
»Rate mal, wer gekommen ist!«
Madame Maigret hatte das weiße Tischtuch ausgebreitet und legte
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