Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
es sich vorstellt … Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll …
Mortier fiel einfach nicht um, und das, obwohl das Blut in Strömen aus dem Loch in seiner Hemdbrust quoll … Ich bin sicher, er hat sogar noch gesagt:
›Ihr Schweine!‹
Und dabei stand er immer noch am selben Platz, die Beine ein wenig gespreizt, wie um das Gleichgewicht zu halten … Wenn das Blut nicht gewesen wäre, hätte man ihn für den Betrunkenen halten können …
Er hatte sehr große Augen, die in diesem Moment noch größer erschienen. Seine linke Hand umklammerte den Knopf seiner Smokingjacke, derweil die Rechte sich nach hinten zur Gesäßtasche hintastete.
Irgend jemand stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Ich glaube, es war Jef … Da plötzlich sahen wir Mortiers Rechte langsam einen Revolver hervorziehen, so ein kleines, schwarzes Ding aus hartem Stahl …
Klein wälzte sich in Krämpfen am Boden. Eine Flasche fiel splitternd herab …
Und immer noch starb Willy nicht! Er wankte unmerklich, sah uns alle nacheinander an … Wahrscheinlich sah er schon nicht mehr klar … Dann hob er den Arm mit dem Revolver …
In dem Moment hat sich einer auf ihn gestürzt, um ihm die Waffe zu entreißen, und ist in dem Blut ausgerutscht. Sie fielen alle beide auf den Fußboden …
Mortier muß einen Schock erlitten haben, verstehen Sie? Denn er starb nicht … Seine großen, glasigen Augen waren weit aufgerissen! …
Immer wieder versuchte er, die Waffe anzuheben; er hat noch einmal ›Ihr Schweine!‹ gesagt.
Dann war die Hand des anderen an seiner Kehle – hat zugedrückt …
Viel Leben war ohnehin nicht mehr in ihm …
Mein Anzug war völlig verschmiert – der im Smoking aber blieb reglos liegen. «
Schaudernd starrten van Damme und Jef Lombard den Freund an. Belloir jedoch schloß mit den Worten:
»Die Hand, die ihm die Kehle zudrückte, war meine! … Derjenige, der in der Blutlache ausrutschte, war ich.«
Stand er nicht vielleicht jetzt gerade an derselben Stelle wie damals, nur sauber, einwandfrei gekleidet, mit frisch geputzten Schuhen und einem Anzug, auf dem kein Stäubchen zu entdecken war?
Ein großer, goldener Siegelring schmückte seine rechte Hand, die weiß und gepflegt war, mit sorgfältig manikürten Fingernägeln.
»Wie betäubt haben wir herumgestanden. Dann wurde Klein, der sich sofort der Polizei stellen wollte, erst mal ins Bett gesteckt. Niemand hat ein Wort gesprochen … Ich kann Ihnen nicht erklären, wie das alles war, obwohl ich einen klaren Kopf hatte. Ich kann nur wiederholen, daß man eine gänzlich falsche Vorstellung von dem Ablauf solcher Tragödien hat … Ich hab van Damme auf den Flur gezerrt, wo wir halblaut miteinander sprachen, während Klein im Hintergrund nicht aufhörte zu schreien, kaum zu halten war.
Die Kirchturmuhr hat die volle Stunde geschlagen – aber ich kann nicht sagen, wieviel Uhr es war –, als wir zu dritt mit der Leiche auf die Gasse hinaustraten … Die Maas führte Hochwasser. Auf dem Quai Sainte-Barbe stand das Wasser einen halben Meter hoch, und die Strömung war stark … Stromaufwärts und stromabwärts waren alle Schleusen geöffnet … Man konnte nur eben im Schein der nächsten Gaslaterne etwas Unförmiges, Dunkles an der Wasseroberfläche den Strom hinabziehen sehen …
Mein Anzug war verschmutzt und zerrissen. Ich habe ihn im Atelier gelassen, und van Damme hat mir von sich zu Hause frische Kleider geholt. Am nächsten Tag hab ich meinen Eltern irgendein Märchen erzählt.«
»Sind Sie danach noch einmal zusammengetroffen?« fragte Maigret bedächtig.
»Nein … Wir haben die Rue du Pot-au-Noir Hals über Kopf verlassen. Lecocq d’Arneville ist bei Klein geblieben. Seither haben wir einander wie auf Verabredung gemieden. Wenn wir uns in der Stadt begegneten, blickten wir in eine andere Richtung.
Der Zufall wollte es, daß Willys Leiche infolge des Hochwassers nie gefunden wurde. Und da er geflissentlich vermieden hatte, seine Beziehung zu uns zu erwähnen – er war nicht stolz auf unsere Freundschaft gewesen –, wurde zuerst angenommen, er sei von zu Hause durchgebrannt … Später hat man Nachforschungen in zweifelhaften Lokalen angestellt, da man annahm, er habe die restlichen Nachtstunden dort verbracht.
Ich habe Lüttich als erster verlassen, drei Wochen danach … Meine Studien hab ich einfach abgebrochen und meiner Familie erklärt, ich wolle in Frankreich Karriere machen … In Paris habe ich bei einer Bank gearbeitet.
Aus den
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