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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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um aller Unruhe ein Ende zu setzen; das Gemurmel brach so plötzlich ab, wie man mit einem Handgriff den Strom abschaltet.
    Die Hotelgäste verschwanden in ihren Zimmern. Auf der Straße hielt sich eine schweigende Menge in respektvoller Entfernung.
    Zwischen Kommissar Maigrets Zähnen steckte auch jetzt noch die Pfeife, nur daß sie erloschen war, und sein fleischiges Gesicht, dessen Züge den Eindruck erweckten, sie seien mit kräftigem Daumendruck in unbildsamen Ton geknetet, trug einen an Furcht oder Verstörtheit grenzenden Ausdruck.
    »Würden Sie mir erlauben, meine Ermittlungen gleichzeitig mit Ihren anzustellen?« fragte er. »Eins steht fest: Der Mann hat Selbstmord begangen. Er ist Franzose.«
    »Waren Sie ihm auf der Spur?«
    »Es würde zu weit führen, Ihnen zu erklären … Ich möchte, daß Ihr Erkennungsdienst ihn so scharf wie nur möglich und von allen Seiten fotografiert.«
    Nach all dem Aufruhr herrschte nun wieder Stille. Nur drei Männer waren in dem Raum zurückgeblieben.
    Der eine, ein junger Mensch mit frischem Teint und kurzgeschorenem Haar, trug zum Jackett eine gestreifte Hose und polierte andauernd die Gläser seiner goldgefaßten Brille. Er wurde mit einem Titel, der wie Oberkriminalrat klang, angeredet.
    Der andere, von ebenso gesunder Hautfarbe, aber weniger förmlich gekleidet, stöberte überall herum und gab sich Mühe, Französisch zu sprechen.
    Sie fanden nichts außer einem Paß, der auf den Namen Louis Jeunet lautete, Maschinenschlosser, gebürtig in Aubervilliers.
    Was den Revolver anging, so trug er den Stempel der Waffenfabrik Herstal in Belgien.
     
    Bei der Kriminalpolizei am Quai des Orfèvres wäre wohl niemand in dieser Nacht auf den Gedanken gekommen, sich einen so schweigsamen und von dem Schicksalsschlag wie vernichteten Maigret vorzustellen; einen Maigret, der seinen deutschen Kollegen bei der Arbeit zusah, beiseite trat, um Fotografen und Gerichtsmedizinern Platz zu machen, und dabei hartnäckig – die immer noch kalte Pfeife zwischen den Zähnen – der kärglichen Beute harrte, die man ihm gegen drei Uhr morgens aushändigte: die Kleidungsstücke des Toten, seinen Paß und ein Dutzend Aufnahmen, denen das Blitzlicht einen gespenstischen Anstrich verlieh.
    Er war nicht weit davon entfernt – ja, er war sogar sehr nahe daran zu denken, daß er einen Menschen umgebracht hatte.
    Einen Menschen noch dazu, den er nicht kannte, von dem er nichts wußte! Es gab keinen Beweis dafür, daß dieser Mensch sich gegen das Gesetz vergangen hatte!
     
    Angefangen hatte es am Abend zuvor in Brüssel, auf die überraschendste Art und Weise. Maigret war auf Dienstreise dort gewesen. Er hatte eine Besprechung mit der belgischen Sûreté über die aus Frankreich verwiesenen italienischen Flüchtlinge gehabt, deren Umtriebe Anlaß zur Beunruhigung gaben.
    Es war mehr ein Ausflug als eine Dienstreise gewesen. Die Besprechungen hatten früher als geplant geendet, so daß dem Kommissar ein paar freie Stunden blieben.
    Und einem Impuls der Neugier folgend hatte er ein kleines Café an der Montagne aux Herbes Potagères betreten.
    Es war zehn Uhr morgens gewesen, und das Lokal so gut wie leer. Dennoch war Maigret über dem Geschwätz des gutgelaunten, vertrauensseligen Wirtes ein Gast im hintersten Winkel des Lokals aufgefallen, der sich im Halbdunkel einer seltsamen Beschäftigung widmete.
    Der Mann sah jämmerlich aus, jeder Zoll verriet den gewohnheitsmäßigen Arbeitslosen, wie man ihn in allen Großstädten der Welt auf der Suche nach einem Gelegenheitsverdienst antrifft.
    Dabei zog er aber Tausendfrancsscheine aus der Tasche, zählte sie und wickelte sie in Packpapier, worauf er das Päckchen verschnürte und mit einer Adresse versah.
    Dreißig Scheine, wenn nicht mehr! Dreißigtausend belgische Francs! Maigret hatte die Stirn gerunzelt und war dem Unbekannten, nachdem dieser seinen Kaffee bezahlt und das Lokal verlassen hatte, bis zum nächsten Postamt gefolgt.
     
    Dort war es ihm gelungen, über die Schulter des Mannes blickend die in einer alles andere als volksschülerhaften Handschrift angegebene Adresse zu entziffern:
     
    Monsieur Louis Jeunet
    Rue de la Roquette 18
    Paris
     
    Aber mehr als alles andere noch hatte ihn der Vermerk »Drucksache« erstaunt.
    Dreißigtausend Francs wie wertloses Zeitungspapier, wie ganz gewöhnliche Werbesendungen loszuschicken! Denn das Päckchen war nicht einmal eingeschrieben worden. Ein Schalterbeamter hatte es gewogen und »siebzig

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