Die Marketenderin
Aufbruch
Aus dem Tagebuch von Johannes Gerter:
Februar 1812
Napoleons Glücksstern strahlte glänzend im Westen, Osten und Süden Europas, welchem er nach mannigfachen Siegen und Eroberungen großentheils Gesetze vorschrieb. Nur Spanien stand zu Ende des Jahres 1811 nach vierjährigem, mit den ungleichsten Mitteln geführten hartnäckigen Kampfe, noch unbesiegt. Zu einem ganz ungünstigen Zeitpunkte – in blindem Vertrauen auf sein Glück – wendete dieser ›Attila seiner Zeit‹ seine Eroberungs-Pläne nach dem Norden Europas, und brachte zu diesem Zwecke innerhalb kurzer Zeit eine Armee auf die Beine, die die Welt staunen machte.
Im Vorgefühle wichtiger Ereignisse machte ich es mir beim Beginne des Abmarsches nach dem Norden Europas zur Aufgabe: Alles genau zu beachten, und jeden Tag wichtiges aufzuzeichnen, insofern ich glücklich wiederkehren sollte.
Seit dem Tod ihrer Mutter mußte Juliane Assenheimer alle Entscheidungen selber treffen, und es gab niemanden, der ihr einen Rat erteilen konnte. Ein Anflug von Selbstmitleid überkam sie. Warum war sie nicht wie andere Frauen – zierlich, zartbesaitet und von jener Aura der Hilflosigkeit umgeben, die in jedem Mann den Beschützer weckt? Sie stellte sich vor, wie es wäre, einen Schwächeanfall vorzutäuschen und von einer Dienerschar verwöhnt zu werden. Aber leider fielen nur feine Damen in Ohnmacht. Marketenderinnen wie sie bekamen ja nicht einmal Kopfschmerzen von den Alkoholschwaden, die allabendlich durchs Zelt waberten.
»Ich komme schon allein zurecht«, murmelte sie trotzig, während sie ihren Wagen über die holprige Straße zum Hof der Franziska Mössner lenkte, auf dem sich jetzt deren Bruder Leutnant Johannes Gerter aufhalten sollte. Hoffentlich stimmte diese Information. Nur um Ware zu kaufen, hätte Juliane den beschwerlichen Weg dorthin nicht auf sich genommen.
Sie zuckte zusammen. Zwei Soldaten auf Pferden sprengten dicht an ihrem Wagen vorbei und hüllten sie in eine Staubwolke ein. Hustend überlegte sie, ob das schon die Vorboten der Mobilmachung waren, über die Felix, der kleine breitschultrige Diener von Leutnant Gerter, gestern abend geredet hatte. Sie mußte an die Worte ihrer Mutter denken: »Laß dich nie mit einem Offizier ein. Du weißt ja, was dabei herauskommt.« Ein Kind wie ich, dachte Juliane dann jedesmal und fand, daß es schlimmere Dinge gäbe. Sie hatte nicht darunter gelitten, ohne Vater aufgewachsen zu sein, aber sie hätte gern gewußt, wer sie gezeugt hatte.
»Ein württembergischer Offizier, der an einem Fuß sechs Zehen hatte«, war alles, was die Mutter jemals verraten hatte. Sechs Zehen! Wann sah man schon einen Offizier ohne Stiefel? Juliane hatte das Hoftor erreicht. Sie zügelte ihre braune Stute, als sie laute Stimmen und das Geschrei einer Frau hörte. Vom Bock aus sah sie, wie die beiden Soldaten, denen sie ihren Hustenanfall zu verdanken hatte, einen gefesselten jungen Mann aus dem Heuschober schleiften und auf ihn einschlugen.
Das Schnattern der Gänse hatte Besucher angekündigt, aber Franziska Mössner erwartete niemanden. Sie hatte alle Schulden bezahlt. Milch und Getreide waren bereits am Morgen abgeholt worden. Spielleute und Wandergesellen verirrten sich in diesen Zeiten nicht mehr auf den Hof.
»Vor fünf Dingen muß sich der Mensch fürchten«, hatte ihr Vater, ein belesener Mann, oft gesagt, »vor Feuer, Wasser, Dieben, Lieblosigkeit und dem König.«
Als Kind hatte sie nie verstanden, weshalb sie sich vor dem König fürchten sollte. Er trug eine goldene Krone und kam gleich nach dem lieben Gott. Als Mutter eines wehrpflichtigen Jungen aber hatte sie den König mehr als alles andere fürchten gelernt. Denn schon 1809 hatte König Friedrich eine neue Militär-Konskriptionsordnung erlassen und erklärt, daß mit wenigen Ausnahmen jeder Württemberger vom 18. bis zum 40. Lebensjahr militärpflichtig sei. Franziska wußte, daß Aushebungskommandos durchs ganze Land zogen, um Rekruten anzuwerben.
Früher wäre Georg von dieser Militärpflicht befreit gewesen, da er Franziskas einziger Sohn war und sie keinen Mann mehr hatte. Jetzt aber mußte sie ständig damit rechnen, daß er abgeholt würde. Sie erschrak bei dem Gedanken an die Dauer der Dienstpflicht: Bei der Infanterie belief sie sich auf acht Jahre und bei Kavallerie und Artillerie auf zehn Jahre. Wie sollte sie den Hof so lange allein führen und was sollte aus Georg werden? Sie hatte sich immer vorgestellt, daß ihr Sohn eines
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