Maigret und der Treidler der Providence
finden, sondern begnügte sich damit, die Atmosphäre in sich aufzusaugen, die ihn umgab, und sich mit diesem Leben am Kanal vertraut zu machen, das so anders war als das, was er kannte.
Er hatte sich vergewissert, daß man ihm ein Fahrrad würde leihen können, falls er das eine oder andere Schiff einholen wollte.
Der Schleusenwärter hatte ihm das Amtliche Handbuch der Binnenschiffahrt ausgehändigt, in dem unbekannte Orte wie Dizy aus topographischen Gründen oder wegen einer Querverbindung, einer Kreuzung oder auch nur, weil es dort ein Hafenbecken, einen Kran oder eine Schleusenmeisterei gab, zu ungeahnter Bedeutung aufstiegen.
Er versuchte, den Weg der Lastkähne und Treidler im Geiste zu verfolgen: Ay – Hafen – Schleuse 13.
Mareuil-sur-Ay – Schiffswerft – Hafen – Wendebecken – Schleuse 12 – Abschnitt 74, 36 …
Dann Bisseuil, Tours-sur-Marne, Condé, Aigny …
Ganz am anderen Ende des Kanals, jenseits des Plateaus von Langres, das die Schiffe Schleuse um Schleuse hinauf- und auf der anderen Seite hinabstiegen, lag die Saône, Chalon, Mâcon, Lyon …
Was konnte diese Frau hier nur gewollt haben?
In einem Pferdestall, mit ihren Perlen an den Ohren, ihrem exklusiven Armband, ihren weißen Wildlederschuhen!
Sie mußte noch lebend angekommen sein, denn das Verbrechen war nach zehn Uhr abends begangen worden.
Aber wie? Und warum? Niemand hatte etwas gehört! Sie hatte nicht geschrien! Die beiden Treidler waren nicht wach geworden!
Wenn der eine seine Peitsche nicht verlegt hätte, wäre die Leiche wahrscheinlich erst vierzehn Tage oder einen Monat später gefunden worden, durch Zufall, beim Wenden des Strohs!
Und andere Treidler wären gekommen und hätten neben dieser Frauenleiche geschnarcht!
Trotz des kalten Regens hing immer noch irgend etwas Drückendes, Unerbittliches in der Luft. Und der Rhythmus des Lebens war schleppend.
Füße in Stiefeln oder Holzschuhen schlurften über die Mauern der Schleuse oder stapften den Leinpfad entlang. Durchnäßte Pferde warteten, bis das Schleusenbecken gefüllt war, um dann mit zunehmender Anstrengung wieder vorwärts zu ziehen, indem sie sich mit der Hinterhand abstemmten.
Und die Dämmerung brach herein, wie am Vorabend. Schon hielten die stromaufwärts fahrenden Schleppkähne an und machten für die Nacht am Ufer fest, während die verfrorenen Schiffer in Gruppen zum Café gingen.
Maigret warf einen Blick in das Zimmer, das man ihm hergerichtet hatte, neben dem des Wirts. Er blieb etwa zehn Minuten dort, zog sich andere Schuhe an und reinigte seine Pfeife.
Gerade als er wieder herunterkam, glitt draußen eine Yacht, die ein Matrose im Ölzeug steuerte, langsam am Ufer vorbei, setzte zurück und hielt zwischen zwei Pollern an, ohne anzustoßen.
Der Matrose führte alle diese Manöver allein aus. Wenig später traten zwei Männer aus der Kajüte, sahen sich gelangweilt um und schlugen dann den Weg zum Café de la Marine ein.
Auch sie hatten Ölzeug übergezogen. Aber als sie es auszogen, kamen darunter Flanellhemden, die sie über der Brust offen trugen, und weiße Hosen zum Vorschein.
Die Schiffer sahen sie an, ohne daß es den Neuankömmlingen das Geringste auszumachen schien. Im Gegenteil, diese Umgebung schien ihnen vertraut zu sein.
Der eine der beiden war groß, breitschultrig, mit graumeliertem Haar, ziegelroter Gesichtsfarbe und vorspringenden graugrünen Augen, die durch die Menschen und Dinge hindurchzublicken schienen, ohne sie zu sehen.
Er lehnte sich in einem Stuhl zurück, zog sich einen zweiten heran, auf den er die Füße legte, und schnippte mit den Fingern, um den Wirt herbeizurufen.
Sein Begleiter, der fünfundzwanzig sein mochte, sprach englisch mit ihm, und zwar mit einer Lässigkeit, die Snobismus verriet.
Er war es auch, der ohne den geringsten Akzent fragte:
»Haben Sie naturbelassenen Champagner? … Nicht moussierend?«
»Habe ich.«
»Dann bringen Sie eine Flasche.«
Sie rauchten türkische Zigaretten mit Pappmundstück.
Die Unterhaltung der Schiffer, die einen Augenblick ausgesetzt hatte, kam nach und nach wieder in Gang.
Kurz nachdem der Wirt den Wein gebracht hatte, trat der Matrose ein, auch er in weißen Hosen und einem Seemannspullover aus Jersey mit blauen Streifen.
»Hierher, Wladimir …«
Der größere von beiden gähnte und machte kein Hehl daraus, daß er sich entsetzlich langweilte. Er leerte sein Glas mit schiefem, nur halb zufriedenem Gesicht.
»Noch eine Flasche!« flüsterte er dem
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