Maigret und der Treidler der Providence
Wesen, deren erster Schritt immer gut ist, wenn nicht gar theatralisch. Sie sind stets voller guter Vorsätze. Aber das Leben mit seinen Gemeinheiten, seinen Kompromissen, seinen unwiderstehlichen Bedürfnissen ist nun einmal stärker.«
Maigret hatte sich in eine gewisse Heftigkeit hineingeredet, ohne allerdings aufzuhören, auf die Geräusche aus dem Stall zu achten, während sein Blick gleichzeitig den Bewegungen der Schiffe folgte, die in die Schleuse einfuhren oder sie verließen.
Der Colonel stand mit gesenktem Kopf vor ihm. Als er wieder aufsah, geschah es, um Maigret mit unverhohlener Sympathie zu betrachten, vielleicht sogar mit verhaltener Emotion.
»Kommen Sie trinken?« sagte er und zeigte auf seine Yacht.
Lucas stand etwas abseits.
»Sie sagen mir Bescheid?« rief ihm der Kommissar zu.
Weiterer Erklärungen bedurfte es zwischen den beiden nicht. Der Inspektor hatte verstanden und strich lautlos um den Stall herum.
An Bord der ›Southern Cross‹ war alles aufgeräumt, als wenn nichts geschehen wäre. Kein Staubkörnchen war auf den Mahagoniwänden der Kajüte zu sehen.
In der Mitte des Tisches eine Flasche Whisky, ein Siphon und Gläser.
»Bleiben Sie draußen, Wladimir!«
Maigret sah sich einer neuen Situation gegenüber. Er war nicht mehr an Bord gekommen, um etwas zu entdecken, das ihn der Wahrheit ein Stückchen näherbrachte. Er gab sich weniger plump, weniger brutal.
Und der Colonel behandelte ihn, wie er Monsieur de Clairfontaine de Lagny behandelt hatte.
»Er wird sterben, nicht wahr?«
»Es kann jede Minute soweit sein, ja! Er weiß es seit gestern.«
Das Sodawasser zischte aus dem Siphon. Sir Walter sagte ernst:
»Zum Wohl!«
Und Maigret trank ebenso begierig wie sein Gastgeber.
»Warum hat er das Krankenhaus verlassen?«
Die Antworten folgten einander mit immer größeren Pausen. Bevor der Kommissar antwortete, sah er sich um und registrierte die kleinsten Details der Kabine.
»Weil …«
Er suchte nach Worten, während sein Gegenüber bereits die Gläser wieder füllte.
»Ein Mann ohne Bindungen. Ein Mann, der alle Brücken zu seiner Vergangenheit, zu seiner früheren Identität abgebrochen hat. An irgend etwas muß der Mensch sich aber doch halten. Er hatte seinen Stall. Den Geruch. Die Pferde. Den Kaffee, den er um drei Uhr morgens trank, noch siedend heiß, bevor er bis zum Abend losmarschierte. Seinen Schlupfwinkel, wenn Sie so wollen. Seine Ecke, die er ganz für sich allein hatte. Durchdrungen von animalischer Wärme …«
Und Maigret blickte dem Colonel in die Augen. Er sah, wie Sir Walter den Kopf abwandte. Und er fügte hinzu, während er sein Glas ergriff:
»Es gibt Schlupfwinkel aller Art. Es gibt welche, die nach Whisky riechen, nach Eau de Cologne und nach Frauen. Mit Grammophonmusik und …«
Er schwieg, um zu trinken. Als er den Blick wieder hob, hatte sein Gegenüber inzwischen schon sein drittes Glas geleert.
Und Sir Walter sah ihn mit seinen großen glasigen Augen an und hielt ihm die Flasche hin.
»Danke, nein«, protestierte Maigret.
» Yes! Ich brauche …«
Lag nicht eine gewisse Zuneigung in seinem Blick?
»Meine Frau … Willy …«
In diesem Augenblick ging dem Kommissar ein Gedanke durch den Kopf, der ihn nicht mehr losließ. War nicht Sir Walter ebenso einsam, ebenso hilflos wie Jean, der in seinem Stall im Sterben lag?
Und der Treidler hatte immerhin seine Pferde um sich und die mütterliche Brüsselerin.
»Trinken Sie! Yes! Ich verlange. Sie sind ein Gentleman.«
Er flehte ihn beinahe an. Er streckte ihm seine Flasche mit einem etwas beschämten Blick entgegen. Man hörte, wie Wladimir auf Deck hin und her ging.
Maigret hielt sein Glas hin. Aber es klopfte, und Lucas rief hinter der Tür:
»Kommissar!«
Und kaum hatte er sie einen Spalt weit geöffnet, fügte er hinzu:
»Es ist vorbei.«
Der Colonel rührte sich nicht. Er sah den beiden Männern, die sich entfernten, mit düsterem Blick nach. Als Maigret sich umdrehte, sah er ihn, wie er das Glas, das er seinem Gast angeboten hatte, mit einem Zug leerte, und hörte ihn rufen:
»Wladimir!«
Neben der ›Providence‹ waren einige Leute stehengeblieben, denn vom Ufer aus hörte man jemanden schluchzen.
Es war Hortense Canelle, die Schiffersfrau, die neben Jean kniete und noch immer zu ihm sprach, obwohl er schon seit einigen Minuten nicht mehr lebte.
Ihr Mann stand an Deck und wartete auf den Kommissar. Er trippelte ihm entgegen, ganz mager und sehr aufgeregt, und stammelte
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