Souvenirs
1
Am Tag, an dem mein Großvater starb, regnete es so stark, dass man nahezu nichts mehr erkennen konnte. Ich stand verloren in einem Gewühl von Regenschirmen und versuchte, ein Taxi zu bekommen. Keine Ahnung, warum ich es so eilig hatte, es war absurd, was nützte es zu rennen, er lief doch nicht weg, er war tot, er würde sich mit Sicherheit nicht vom Fleck rühren, sondern auf mich warten.
Zwei Tage zuvor war er noch am Leben gewesen. Ich hatte ihn besucht, im Krankenhaus von Kremlin-Bicêtre vor den Toren von Paris, in der beschämenden Hoffnung, dass es das letzte Mal sein würde. Dass sein langer Leidensweg ein Ende genommen hätte. Als er trinken wollte, ging ich ihm mit dem Strohhalm zur Hand. Das Wasser lief ihm zur Hälfte den Hals herunter und durchtränkte sein Hemd, aber um Annehmlichkeiten ging es in dem Moment nun wahrlich nicht. Er sah mich hilflos an, sein Verstand war klar wie in gesunden Tagen. Das Schlimmste wahrscheinlich war zu spüren, dass er sich seines Zustands bewusst war. Jede Ankündigung eines Atemzugs stellte ihn vor eine unerträglich schwere Entscheidung. Ich wollte ihm sagen, was für eine Liebe ich für ihn empfand, doch ich brachte die Worte nicht über die Lippen. Ich erinnere mich noch an sie und an dieScham, die meine unausgereiften Gefühle zurückhielt. Die in einer solchen Situation lächerlich ist. Die so unverzeihlich wie unabänderlich ist. Ich bin mit den Worten, die ich sagen wollte, so oft in Verzug gewesen. Eine solche Zärtlichkeit werde ich nie wiederfinden. Außer jetzt vielleicht, beim Schreiben. Jetzt kann ich es ihm ja sagen.
Ich saß auf einem Stuhl an seiner Seite und hatte das Gefühl, dass die Zeit stillstand. Eitle Minuten gebärdeten sich wie Stunden. Gingen sterbenslangsam dahin. Da zeigte mir mein Handy an, dass ich eine Nachricht empfangen hatte. Ich hielt inne, täuschte ein Zögern vor, denn tief in meinem Innern freute ich mich über diese Nachricht, war mir jeder oberflächliche Grund recht, der mich, und sei es nur für einen kurzen Moment, aus meiner Benommenheit aufrüttelte. Ich weiß nicht mehr genau, was der Inhalt dieser Nachricht war, aber ich weiß noch, dass ich postwendend antwortete. So werden diese winzigen belanglosen Sekunden in der Erinnerung für immer als Parasiten dieses bedeutenden Augenblicks fortleben. Ich bereue sie entsetzlich, diese zehn Wörter, die sicherlich jemandem bestimmt waren, den ich nicht ausstehen konnte. Ich begleitete meinen Großvater in den Tod und bot zugleich alles auf, um in Gedanken nicht bei ihm zu sein. Was ich auch zu berichten haben mag vom tiefen Leid, das mir widerfahren ist, die Wahrheit ist: Die Gewohnheit hatte mich ausgezehrt. Kann man sich an Leid gewöhnen? Es gibt durchaus Situationen, in denen man richtig leidet und gleichzeitig eine SMS schickt.
Seine letzten Jahre waren vom allmählichen körperlichen Verfall gezeichnet gewesen. Er war von Krankenhaus zu Krankenhaus gezogen, von Scanner zu Scanner, tanzte den langsamen und lächerlichen Walzer der modernen Lebensverlängerung. Ergibt es einen Sinn, Galgenfristen durch Patiententransporte auszudehnen? Er war stolz, ein Mann zu sein; er liebte das Leben; er wollte nicht mit dem Strohhalm trinken. Und ich war stolz, sein Enkelkind zu sein. Die Schachtel meiner Kindheit steckt voller Erinnerungen an meinen Großvater. Von dieser Schachtel könnte ich viel berichten, doch darum geht es nicht in diesem Buch. Aber das Buch kann so beginnen. Mit einer Szene im Jardin du Luxembourg, wo wir uns regelmäßig die Puppentheateraufführungen ansahen. Wir fuhren mit dem Bus durch ganz Paris, vielleicht waren es ja auch nur ein paar Viertel, aber mir kamen diese Fahrten ungeheuer lang vor. Wie richtige Expeditionen, ich befand mich auf Abenteuerreise. Jede Minute erkundigte ich mich, wie Kinder das eben so tun:
«Sind wir bald da?»
«Och, das dauert noch! Wir müssen doch bis zur Endhaltestelle fahren», gab er regelmäßig zurück.
Und für mich war diese Endhaltestelle von einem Hauch von Weltende umweht. Er schaute unterwegs auf seine Uhr, mit der gelassenen Besorgnis jener Leute, die ständig zu spät kommen. Wir mussten rennen, um den Beginn nicht zu verpassen. Er war genauso aufgeregt wie ich. Natürlich genoss er es, in Gesellschaft der Hausfrauen zu sein. In der ich nicht sagen durfte, dass ich sein Enkelkind war, mich als seinSohn ausgeben musste. Die Einladung ins Puppentheater galt auch noch, als ich die Altersgrenze schon
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