Maigret und der Treidler der Providence
man durch die Pfützen und den knietiefen Matsch stapfen müssen.
Diese Frau aber gehörte offensichtlich zu einer Welt, in der man sich häufiger in einer Luxuslimousine oder im Schlafwagen bewegt als zu Fuß.
Sie trug nur ein cremefarbenes Seidenkleid und weiße Wildlederschuhe, die eher als Strandschuhe geeignet waren denn als Straßenschuhe.
Das Kleid war zerknittert, wies aber keinerlei Schlammspuren auf. Nur der linke Schuh war vorn noch etwas feucht, als man die Tote entdeckte.
»Achtunddreißig bis vierzig Jahre!« hatte der Arzt gesagt, nachdem er sie untersucht hatte.
Als Ohrringe trug sie echte Perlen, die ungefähr fünfzehntausend Francs wert sein mochten. Ihr Armband, aus Gold und Platin, hatte eine ultramoderne Form und war mehr dekorativ als kostbar, trug aber den Stempel eines Juweliers an der Place Vendôme.
Sie hatte brünettes, onduliertes Haar, das im Nacken und an den Schläfen sehr kurz geschnitten war.
Das Gesicht, das durch die Strangulation entstellt war, mußte auffallend hübsch gewesen sein.
Zweifellos eine faszinierende, lebenslustige Frau.
Ihre manikürten und lackierten Fingernägel waren schmutzig.
Man hatte keine Handtasche in ihrer Nähe gefunden. Die Polizei von Epernay, Reims und Paris versuchte seit dem frühen Morgen vergeblich, anhand einer Fotografie der Toten deren Identität festzustellen.
Und der Regen schüttete unerbittlich auf eine unwirtliche Landschaft. Links und rechts begrenzten Kreidehügel den Horizont mit ihren weißen und schwarzen Streifen, auf denen die Weinstöcke zu dieser Jahreszeit wie die Holzkreuze eines Soldatenfriedhofs aussahen.
Der Schleusenwärter, den man nur an seiner mit einer silbernen Tresse besetzten Mütze erkennen konnte, lief mit bedrückter Miene um das Schleusenbecken herum, in dem das Wasser jedesmal zu tosen begann, wenn er die Schieber öffnete.
Und jedem Schiffer erzählte er die Geschichte, während das Schiff sich hob oder senkte.
Manchmal, sobald die vorgeschriebenen Papiere unterschrieben waren, gingen die beiden Männer mit eiligen Schritten ins Café de la Marine und leerten einige Gläser Rum oder einen Schoppen Weißwein.
Und jedesmal wies der Schleusenwärter mit dem Kinn auf Maigret, der ohne ein bestimmtes Ziel herumstrich und einen ziemlich ratlosen Eindruck machen mußte.
So war es auch. Dieser Fall erwies sich als in jeder Hinsicht ungewöhnlich. Es gab nicht einmal einen Zeugen, den man hätte vernehmen können.
Nachdem die Staatsanwaltschaft den Schleusenwärter vernommen hatte, hatte sie sich mit dem Ingenieur der Brücken- und Straßenbauverwaltung in Verbindung gesetzt und entschieden, daß alle Schiffe weiterfahren durften.
Die beiden Treidler waren gegen Mittag als letzte aufgebrochen, mit zwei Panamas, die sie begleiteten.
Da es alle drei oder vier Kilometer eine Schleuse gab und diese Schleusen Telefonverbindung untereinander hatten, konnte man jederzeit erfahren, wo sich welches Schiff jeweils befand, und ihm den Weg versperren.
Außerdem hatte ein Kommissar der Kriminalpolizei von Epernay zahlreiche Vernehmungen durchgeführt, deren Niederschriften Maigret zur Verfügung standen; aber auch daraus ergab sich nichts, außer daß der ganze Sachverhalt höchst unwahrscheinlich anmutete.
Alle, die sich am Vorabend im Café de la Marine aufgehalten hatten, waren entweder dem Wirt oder dem Schleusenwärter bekannt, meistens sogar beiden.
Die Treidler schliefen mindestens einmal in der Woche im selben Pferdestall, und jedesmal waren sie gleich stark angetrunken.
»Sie müssen wissen, daß man an jeder Schleuse einen trinkt. Fast alle Schleusenwärter haben einen Ausschank.«
Das Tankschiff, das Sonntag nachmittag gekommen und Montag morgen weitergefahren war, hatte Benzin geladen und gehörte einer großen Firma in Le Havre.
Was die ›Providence‹ betraf, so war deren Kapitän zugleich der Schiffseigner; sie kam an die zwanzigmal im Jahr mit ihren beiden Pferden und dem alten Treidler vorbei. Und so war es auch mit den anderen.
Maigret war schlecht gelaunt. Hundertmal ging er in den Stall, dann in das Café oder in den Laden.
Man sah ihm nach, wie er bis zur Steinbrücke ging und dabei seine Schritte zu zählen oder etwas im Schlamm zu suchen schien. Knurrig und wassertriefend sah er zu, wie zehn Schiffe nacheinander durchgeschleust wurden.
Man fragte sich, was er eigentlich vorhatte, aber das wußte nicht einmal er selbst. Er versuchte auch nicht, irgendein Indiz im eigentlichen Sinne zu
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