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Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet

Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet

Titel: Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Departementsrat befand, würden sie trösten, würden sie mit Freuden wieder im trauten Familienkreis aufnehmen.
    Maigret hatte sich mit einem flüchtigen Händedruck von Monsieur Tardivon verabschiedet, der nur noch Augen für seine Pariser Gäste zu haben schien. Diese hatten sich endlich entschlossen, ihre Party ins Innere zu verlegen.
    Die leere Hängebrücke hallte unter seinen Schritten. Das Wasser zog leise murmelnd an den Sandbänken vorbei.
    Er stellte sich vor, wie Henry Gallet in einigen Jahren über diese Brücke spazieren würde, ein älterer Henry mit gelbem Teint und einem noch breiteren, noch schmaleren Mund. Und neben ihm Eléonore, deren Züge sich allmählich verhärteten, deren Figur zusehends behäbiger wurde.
    Würden sie sich streiten?
    Wegen jeder Kleinigkeit! Vor allem wegen ihrer fünfhunderttausend Franc! …
    Denn die beiden, die würden das Geld haben!
    »Was bildest du dir eigentlich ein? … Dein Vater war ein …«
    »Ich verbiete dir, so über meinen Vater zu sprechen … Was warst denn du, als ich dich kennenlernte?«
    »Du hast aber damals genau gewußt …«
     
    Er schlief auf der ganzen Fahrt nach Paris. Im Traum verfolgten ihn schattenhafte Gestalten, ein Gewimmel von widerlichen Fratzen.
    An der Gare de Lyon trank er einen Kaffee mit Schnaps. Als er zahlte, flatterte die Ansichtskarte mit dem ›Hôtel de la Loire‹ aus seiner Tasche.
    Neben ihm stand eine Verkäuferin und tunkte ein Hörnchen in ihre Schokolade.
    Er warf die Karte auf die Theke und ging hinaus. Durch die Scheibe sah er, wie das Mädchen sehnsüchtig die Hängebrücke und die paar Bäume, die Monsieur Tardivons Hotel umstanden, betrachtete.
    Eines Tages würde sie vielleicht in jenem Zimmer schlafen …
    Und Saint-Hilaire würde in seinem grünen Jägerrock am Hotel vorbeigehen und sie zu einem Glas Schaumwein in sein Schlößchen einladen …
    »Du siehst aus, als kämst du von einer Beerdigung!« bemerkte Madame Maigret, als er seine Wohnung am Boulevard Richard Lenoir betrat. »Hast du wenigstens gegessen?«
    »Beerdigung ist richtig«, brummte er und blickte sich erleichtert in dem vertrauten Wohnzimmer um. »Er ist endgültig beerdigt …«
    Sie sah ihn verständnislos an.
    »Aber das sag ich dir«, fuhr er fort. »Ein wirklicher Toter, der von einem wirklichen Mörder umgebracht worden ist, ist mir hundertmal lieber. Weck mich um elf! Ich muß dem Chef Bericht erstatten …«
    Was er ihr verschwieg, war, daß er keineswegs zu schlafen gedachte, weil er im Grunde keine Ahnung hatte, was er dem Chef erzählen sollte.
    Die reine, nackte Wahrheit? Die würde Madame Gallet um ihre dreihunderttausend Franc bringen. Und Madame Gallet würde sich mit ihrem Sohn, mit Eléonore, mit Tiburce de Saint-Hilaire auseinandersetzen müssen und sich mit ihren Schwestern und Schwägern von neuem überwerfen.
    Alles, was dabei herauskäme, wäre ein Knäuel von Intrigen, Haß, endlosen Prozessen … Vielleicht bestünde ein besonders gewissenhafter Richter sogar darauf, daß Emile Gallets Leiche exhumiert und nochmals untersucht würde!
    Maigret hatte das Bild des Toten abgeschickt. Er brauchte es nicht mehr. Das verblichene Foto hatte seinen Zweck erfüllt.
    »… Seine rechte Wange färbte sich rot. Dann sah ich das Blut. Er stand und starrte immer auf den gleichen Punkt, als ob er auf etwas wartete …«
    »Auf den Frieden, zum Teufel! Das war es, worauf er sein Leben lang wartete!« knirschte Maigret und verließ das Haus, obschon es noch längst nicht elf Uhr war.
    Mit hängenden Schultern stand er zehn Minuten später vor seinem Chef.
    »Eine verpatzte Angelegenheit. Wir können diese kleine, schmutzige Geschichte zu den Akten legen.«
    Nach einer Pause fuhr er fort:
    »Der Arzt sagt, er hätte keine drei Jahre mehr zu leben gehabt. Nehmen wir an, die Versicherungsgesellschaft verliert sechzigtausend … Was heißt das schon, bei einem Kapital von neunzig Millionen …?«
     
    Morsang, an Bord der ›Ostrogoth‹, Sommer 1930

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