Ruf der Drachen (German Edition)
The very first time I saw your face
I thought of a song and
quickly changed the tune.
The very first time I touched your skin
I thought of a story and
rushed to reach the answers soon.
Remember – please don’t change.
(The Cure – Primary)
KAPITEL I
Es begann nicht einmal zwei Monate nach meinem Umzug nach Westberlin. Hätte ich geahnt, dass sich mein ganzes Leben verändern würde – vielleicht hätte ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zu verhindern, was sich längst Wege gebahnt hatte. Doch sieht man nicht immer erst im Nachhinein, worin Sinn liegt und worin nicht?
Vergessen die Jahre zuvor, das Suchen, das Warten, die merkwürdige Ungeduld in einem Gefühl von permanentem Halbdunkel. In diesem Moment, am Abend des 6. Oktober 1988, beginnt die Geschichte von Jakob Roth, zwanzig, Student der Musik und Judaistik, Nichtraucher, Schlafgestörter und Zweifler. Meine Geschichte …
***
Als ich aus der kleinen Stadtvilla kam, hatte sich die blaue Dämmerung schon über das Viertel gelegt wie ein Nachtfalter die samtigen Flügel. Es war kühl geworden in den letzten Tagen. Die Bäume in den Straßen von Berlin-Friedenau trugen ihre gelb-grün gesprenkelten Blätter noch wie zum Trotz hoch erhoben, doch in der Luft lag schon eine deutliche Vorahnung des Winters. Ich hängte mir meinen Klarinettenkoffer über die Schulter und wollte gerade die wenigen Stufen des Hauses hinunter und durch den kleinen Vorgarten zur Straße gehen, als ein Geräusch meine Aufmerksamkeit erregte. Ein feines Plätschern, kaum wahrnehmbar, das nach wenigen Sekunden wieder verstummte. Ich wandte den Kopf und erblickte an der Regenrinne des alten Hauses einen merkwürdigen Umriss. Im Halbdunkel konnte ich ihn nicht richtig erkennen, trat näher – und zuckte zurück. Ein silbrig schimmernder Drache starrte mit weit aufgerissenem Maul zu mir herunter.
Fasziniert betrachtete ich den stummen Wasserspeier. Er wirkte merkwürdig deplatziert an diesem Haus, wie ein verrückter Auswuchs einer ganz normalen Regenrinne. Der Drache war nicht besonders groß, aber jetzt, da ich nah genug war, sah ich die fein gearbeiteten Strukturen. Schimmernde Schuppen bedeckten den Hals bis zu dem Punkt, an dem er in die Regenrinne des Hauses überging, und die Augen waren mit je einem funkelnd blauen Stein verziert, in dem sich das Licht der Gaslaternen brach.
Mein Blick wanderte zum Hals des Drachen zurück und ein Symbol, das sich nur schemenhaft abzeichnete, zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich trat noch näher heran. Tatsächlich, da war etwas in das Metall eingraviert. Es sah aus wie eine kleine Sonne. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streckte die Hand aus. Als meine Finger die Gravur berührten, zuckte ich zurück, als wäre elektrischer Strom durch mich hindurchgejagt. Ein heftiger Schauer lief mir über den Rücken.
Ich atmete tief durch. Da war es wieder, dieses Gefühl, das ich seit meiner Kindheit kannte. Es trat immer dann auf, wenn an einem Ort irgendetwas Außergewöhnliches in der Luft lag. Etwas jenseits der Norm. Ich konnte nie genau sagen, wodurch ich diese Phänomene wahrnahm. War es das Prickeln, das sich auf meine Haut legte wie feinste Eiskristalle? Die Tatsache, dass ein Vibrieren durch mein Nervensystem lief und mich oft genug irritiert zurückließ? Was auch immer, eins stand für mich innerhalb von Sekunden fest: Mit diesem Wasserspeier stimmte etwas nicht.
Ich machte einen Schritt zurück und blickte mich um, doch da war nichts als Stille und das leise Rascheln des Herbstwindes in den Bäumen.
Dann, ganz plötzlich, setzte das Plätschern des Wasserspeiers wieder ein. Ein rhythmisches Tropfen für einige Sekunden – und dann, als hätte jemand einen Hahn zugedreht, erneute Stille.
Ein Gedanke durchzuckte mich: Der Herbst war in diesem Jahr ungewöhnlich trocken. Es hatte seit Tagen nicht geregnet und die gesamte erste Oktoberwoche war von strahlendem Sonnenschein erfüllt gewesen. Woher bezog der Wasserspeier an der Dachrinne also sein Wasser? Und wieso nur in so unregelmäßigen Abständen?
In diesem Moment öffnete sich die Haustür und Christiane Meinert, die Mutter meines Klarinettenschülers, trat in den Lichtkegel, den die Flurlampe auf die Treppe warf. Als sie mich sah, zuckte sie zusammen. »Herr Roth? Was tun Sie denn noch hier? Haben Sie etwas vergessen?«
Ich trat hastig einige Schritte zurück und schüttelte den Kopf.
»Nein, nein. Ich habe nur …« Ich wollte auf den Wasserspeier
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