Maigret und die Affäre Saint Fiacre
ihr schwarzes Kleid, ihre Garnhandschuhe anzuziehen und den kleinen Hut aufzusetzen, den ihr Haarkn o ten nach vorne drückte.
»Ich lasse Sie allein fertigessen … Schließen Sie dann ab? …«
»Nein, ich bin schon soweit.«
Es machte sie befangen, mit einem Mann unterwegs zu sein. Einem Mann aus Paris! Sie trottete dahin, schmächtig und gebeugt, in der Morgenkälte. Welke Blätter wehten über den Boden. Ihr trockenes Rascheln zeigte an, daß es Nachtfrost gegeben hatte.
Auch andere Schatten strebten dem schwach erleuchteten Kircheneingang zu. Die Glocken läuteten noch immer. Da und dort war Licht hinter den Fenstern der niedrigen Häuser: Leute, die sich eilig zur Frühmesse anzogen.
Und Maigret erlebte es wieder so wie einst: die Kälte, das Prickeln in den Augen, die klammen Finger, im Mund ein Nachgeschmack von Kaffee. Dann, beim B e treten der Kirche, ein Schwall warmer Luft, das sanfte Licht, der Duft der Kerzen, des Weihrauchs.
»Verzeihung … Ich habe meinen Betstuhl da vorn …«, raunte sie.
Und Maigret erkannte den schwarzen Stuhl mit samtbezogenen roten Armlehnen, den seinerzeit die alte Tatin benutzt hatte, die Mutter des schielenden Mä d chens.
Das Seil, vom Glöckner eben losgelassen, schwang im Hintergrund noch nach. Der Mesner war mit dem Ke r zenanzünden fast fertig.
Wie viele waren sie in dieser gespenstischen Versammlung halbwacher Leute? Wenig mehr als ein Du t zend? Darunter bloß drei Männer: der Mesner, der Glöckner und Maigret.
Es wird ein Verbrechen geschehen …
In Moulins war die Polizei von einem schlechten Scherz ausgegangen und hatte sich nicht beunruhigt. In Paris war man überrascht gewesen, daß der Kommissar hi n fuhr.
Dieser hörte Geräusche hinter der Türe rechts vom Altar, und er konnte sich vorstellen, was dort nun gerade geschah: die Sakristei, der Chorknabe, der ministrieren sollte und verspätet war, der Pfarrer, der wortlos sein Meßgewand überstreifte, die Hände zusammenlegte, sich zum Schiff hin aufmachte, gefolgt von dem über den Saum des Chorkleids stolpernden Jungen …
Der Bub war rothaarig. Er schwang sein Meßglöckchen. Das Gemurmel der liturgischen Gebete setzte ein.
… während der Frühmesse …
Maigret hatte eine um die andere die schattenhaften Gestalten angeschaut. Fünf alte Frauen, von denen drei i h ren festen Betstuhl hatten. Eine dicke Bäuerin. Einige jüngere Bauersfrauen und ein Kind.
Draußen, Lärm von einem Auto. Das Ächzen eines Wagenschlags. Kurze, leichte Schritte, und eine Dame in Trauerkleidung, die durch die Kirche schritt.
Im Chor war eine für die Leute vom Schloß reservie r te Gestühlreihe, harte Betstühle aus altem, ganz glattp o liertem Holz. Dort nahm die Frau Platz, still, vom Blick der Bäuerinnen begleitet.
Requiem aeternam dona eis, Domine …
Maigret hätte im Wechselgesang dem Priester wohl schon noch antworten können. Er lächelte, als ihm einfiel, daß er einst die Seelenmessen den anderen vorgez o gen hatte, der kürzeren Orationen wegen. Er erinnerte sich an Messen, die in sechzehn Minuten zelebriert wu r den!
Doch schon richtete er sein Augenmerk ganz auf die Benutzerin des gotischen Betstuhls. Knapp sah er ihr Profil. Es fiel ihm schwer, die Gräfin de Saint-Fiacre wiederzuerkennen.
»Dies irae, dies illa …«
Und sie war es doch! Aber als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie fünf- oder sechsundzwanzig gewesen. Eine hochgewachsene, schlanke, melancholische Frau, die man von ferne im Park erblicken konnte.
Jetzt mochte sie gut sechzig Jahre alt sein … Sie betete inbrünstig … Sie hatte ein abgezehrtes Gesicht, allzu lange, allzu schmale Hände, die ein Meßbuch umkla m merten.
Maigret war in der letzten Reihe der Stühle mit Flechtsitz geblieben, jene für die zum Hochamt fünf Centimes zu zahlen sind, bei gewöhnlichen Messen j e doch nichts.
Es wird ein Verbrechen geschehen …
Er erhob sich mit den anderen zur ersten Lesung. Altbekanntes kam aus allen Richtungen auf ihn zu. Erinnerungen drangen auf ihn ein. So dachte er plötzlich: An Allerseelen zelebriert der gleiche Priester drei Messen …
Seinerzeit hatte er jeweils zwischen der zweiten und der dritten beim Pfarrer zu Essen bekommen. Ein we i ches Ei und etwas Ziegenkäse.
Die Polizei in Moulins hatte recht gehabt! Ein Verbr e chen war gar nicht möglich! Der Mesner hatte am Ende des Chorgestühls Platz genommen, vier Sitze weiter als die Gräfin. Der Glöckner war
Weitere Kostenlose Bücher