Maigret und die Affäre Saint Fiacre
Schloß lastet eine hohe Hypothek … Drei der fünf Pachthöfe sind verkauft … Gelegentlich holt ein Antiquitätenhändler das eine oder andere noch ve r käufliche Stück …«
»Und der Sohn?«
»Ich kenne ihn kaum. Man sagt, er sei ein Windhund.«
»Ich danke Ihnen.«
Maigret wandte sich, um hinauszugehen. Bouchardon lief hinterher.
»Unter uns, ich wüßte doch gern, durch welchen Zufall Sie ausgerechnet heute früh in der Kirche waren.«
»Ja, merkwürdig! …«
»Ich habe den Eindruck, Sie schon mal irgendwo gesehen zu haben …«
»Möglich …«
Und Maigret beschleunigte seine Schritte den Flur hinunter. Er spürte eine leichte Leere im Kopf, weil er nur wenig geschlafen hatte. Vielleicht hatte er sich auch in Marie Tatins Gasthof erkältet. Er sah Jean die Treppe herunterkommen, in einem grauen Anzug, jedoch noch in Pantoffeln. Im gleichen Augenblick fuhr ein Auto mit ungedämpftem Auspuff in den Schloßhof.
Es war ein kleiner offener Sportwagen, kanariengelb lackiert, lang, schmal, unbequem. Ein wenig später betrat ein Mann im Ledermantel eilig die Halle, zog sich die Staubkappe vom Kopf und rief:
»Hallo! Ist da jemand? … Oder schläft hier noch alles? …«
Dann aber erblickte er Maigret, den er neugierig betrachtete.
»Was tun Sie? …«
»Schscht! Ich muß mit Ihnen reden …«
Neben dem Kommissar stand Jean, bleich und unruhig. Im Vorbeigehen versetzte ihm der Graf de Saint-Fiacre einen leichten Faustschlag gegen die Schulter und spaßte:
»Noch immer da, du Schuft!«
Es sah nicht aus, als hätte er etwas gegen ihn; nur als verachte er ihn zutiefst.
»Es ist doch nichts Schlimmes geschehen, oder?«
»Ihre Mutter ist heute früh gestorben, in der Kirche.«
Maurice de Saint-Fiacre war dreißig, gleich alt wie Jean. Beide hatten dieselbe Größe, doch der Graf war breit, leicht beleibt. Und sein ganzes Auftreten, besonders in seinem Ledermantel, zeugte von flottem Lebensstil. Se i ne Augen blickten vergnügt, spöttisch. Erst Maigrets Antwort ließ ihn die Brauen runzeln.
»Was sagen Sie?«
»Kommen Sie mit.«
»Also, so etwas …! Und ich, der …«
»Der was? …«
»Nichts! Wo ist sie? …«
Er war perplex, verunsichert. Im Zimmer hob er die Decke nur soweit an, daß er das Gesicht der Toten wahrnehmen konnte. Kein Schmerzausbruch. Keine Tränen. Keine dramatischen Gesten. Bloß zwei gemurmelte Worte:
»Arme Alte!.«
Jean hatte sich bemüßigt gefühlt, an die Türe zu kommen worauf der andere, als er ihn erblickte, ihm zuwarf:
»Mach, daß du fortkommst!«
Er wurde unruhig, lief hin und her, stieß auf den Arzt.
»An was ist sie gestorben, Bouchardon?«
»Herzstillstand, Monsieur Maurice … Aber der Kommissar weiß vielleicht mehr darüber als ich …«
Der junge Mann wandte sich lebhaft nach Maigret um.
»Sie sind von der Polizei …? Was hat …«
»Wenn Sie wollen, können wir uns kurz miteinander unterhalten? … Ich würde gern draußen ein paar Schri t te tun … Bleiben Sie da, Doktor? …«
»Eigentlich wollte ich jagen gehen, und …«
»Nun, dann jagen Sie eben an einem anderen Tag.«
Maurice de Saint-Fiacre folgte Maigret mit gesenktem Blick und nachdenklicher Miene. Als sie die Allee zum Dorf erreichten, ging gerade die Sieben-Uhr-Messe zu Ende, und die Kirchgänger, zahlreicher als zur Frühme s se, kamen heraus, bildeten Gruppen auf dem Vorplatz. Einige hatten bereits den Friedhof betreten, hinter de s sen Mauer nur noch ihre Köpfe sichtbar waren.
Je heller das Tageslicht, desto spürbarer wurde die Kä l te, zweifellos des Windes wegen, der die welken Blä t ter von einer Seite des Platzes zur anderen trieb und sie V ö geln gleich über dem Notre-Dame-Teich kreiseln ließ.
Maigret stopfte seine Pfeife. War das nicht der Haup t grund dafür, daß er seinen Begleiter ins Freie gelockt ha t te? Zwar rauchte der Arzt drinnen sogar im Zimmer der Toten. Und Maigret pflegte sonst zu rauchen, wo es ihm beliebte.
Aber nicht im Schloß! Das war ein besonderer Ort, der während seiner ganzen Jugend das Allerehrwürdigste darstellte, das es für ihn gab.
»Heute ließ mich der Graf zur Arbeit in seine Bibliothek kommen!« hatte sein Vater mit einem Anflug von Stolz berichtet. Und der kleine Bub, der Maigret zu jener Zeit war, hatte von fern mit Ehrfurcht den Kinderwagen beobachtet, den eine Pflegerin durch den Park schob. Der Säugling war Maurice de Saint-Fiacre gew e sen!
»Ist jemand am Tod Ihrer Mutter interessiert?«
»Ich verstehe nicht
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