Maigret und die Affäre Saint Fiacre
daherkommen sah, den seine Mutter an der Hand hielt. Aber sie begleitete ihn nicht bis zum Gasthaus. Sie blieb vielmehr an der Straßenbiegung stehen, wo sie außer Sicht zu sein glaubte und versetzte dort ihrem Sohn einen kräftigen Schubs vorwärts, wie um ihm den nötigen Schwung zu geben, der ihn bis zum Gasthaus beförderte.
Als Ernest eintrat, war er völlig selbstsicher. So selbs t sicher wie ein Bub, der bei der Klassenfeier am Ende des Schuljahrs eine Fabel aufsagen soll, die seit drei Mon a ten immer wieder durchgenommen wurde.
»Ist der Kommissar da?«
Im gleichen Augenblick, in dem er Marie Tatin diese Frage stellte, erblickte er Maigret und ging auf ihn zu, beide Hände in den Hosentaschen und mit der einen an etwas herumfingernd.
»Ich bin gekommen um …«
»Zeig mir mal deine Pfeife.«
Sogleich wich Ernest einen Schritt zurück, wendete den Blick ab, überlegte, murmelte dann:
»Was für eine Pfeife?«
»Die, die du in der Tasche hast … Wünschst du dir so eine Pfadfinderpfeife schon lange? …«
Das Kind zog sie unwillkürlich hervor, legte sie auf den Tisch.
»Und jetzt erzähl mir deine kleine Geschichte.«
Ein mißtrauischer Blick, dann ein unmerkliches Achselzucken. Denn Ernest war schon gewitzt. In seinem Blick stand klar zu lesen: ›Ach, was! Die Pfeife hab ich! Ich sage einfach, was man mich sagen hieß …‹
Und er leierte her:
»Es ist wegen dem Meßbuch … Ich habe Ihnen neulich nicht alles gesagt, weil ich Angst vor Ihnen bekam … Aber Mama will, daß ich die Wahrheit erzähle … Jemand ist kurz vor dem Hochamt zu mir gekommen und hat das Meßbuch haben wollen …«
Immerhin war er puterrot geworden und langte plötzlich nach seiner Pfeife, als ob er fürchtete, daß man sie ihm seines Schwindeins wegen wegnehmen könnte.
»Und wer ist zu dir gekommen?«
»Monsieur Métayer … Der Sekretär vom Schloß …«
»Komm, setz dich zu mir … Willst du einen Sirup trinken?«
»Ja, mit Wasser, das prickelt …«
»Bring uns einen Sirup mit Sprudelwasser, Marie … Und du, freust du dich über deine Pfeife? … Zeig doch mal, wie sie tönt …«
Die Leichenträger schauten sich verwundert um, als sie den Pfiff hörten.
»Deine Mutter hat sie dir gekauft, gestern nachmittag … Stimmt’s?«
»Woher wissen Sie das?«
»Wieviel hat sie gestern in der Bank bekommen, deine Mutter?«
Der Rotschopf schaute ihm in die Augen. Er war nicht mehr puterrot, sondern ganz blaß. Er warf einen raschen Blick nach der Türe, wie um die Entfernung a b zuschätzen, die ihn davon trennte.
»Trink deinen Sirup … Es war Emile Gautier, der euch empfing … Und er hat dich deine Geschichte nochmals aufsagen lassen …«
»Ja!«
»Er hieß dich tatsächlich, Jean Métayer zu beschuldigen?«
»Ja.«
Und nach kurzem Grübeln:
»Was werden Sie mit mir tun?«
Maigret vergaß zu antworten. Er überlegte. Er überlegte, daß seine Rolle in dieser Affäre sich darauf b e schränkt hatte, das letzte Kettenglied zu finden, ein kleines Glied nur, das aber den Kreis perfekt schloß.
Es war also wirklich Jean Métayer, auf den Gautier ursprünglich den Verdacht zu lenken plante. Doch der gestrige Abend hatte seine Absichten durchkreuzt. Ihm mußte klar geworden sein, daß der gefährliche Mann nicht der Sekretär war, sondern der Graf de Saint-Fiacre. Und wenn nichts dazwischen gekommen wäre, hätte er in aller Frühe den Rotschopf aufgesucht, um ihm die neue Aussage ei n zutrichtern:
Du wirst sagen, daß der Herr Graf das Meßbuch von dir haben wollte …
Der Bub fragte nun nochmals:
»Was werden Sie mit mir tun?«
Maigret fand zur Antwort keine Zeit. Der Anwalt kam die Treppe herunter, betrat die Gaststube, ging nach kaum merklichem Zögern auf Maigret zu, die Hand ausgestreckt.
»Haben Sie gut geschlafen, Herr Kommissar? … Ve r zeihen Sie … Ich bitte um Ihren Rat, im Namen meines Klienten … Es ist wahnsinnig, wie mir der Kopf brummt …«
Er setzte sich, ließ sich vielmehr auf die Bank fallen.
»Um zehn Uhr, nicht wahr, beginnt die Bestattung?«
Er schaute nach den Leichenträgern, dann auf die Leute, die draußen umhergingen, wartend, bis es Zeit zum Begräbnis war.
»Unter uns, meinen Sie, daß es Métayers Pflicht wäre … Verstehen Sie mich recht … Wir sind uns der Situ a tion bewußt, und es ist gerade aus Taktgefühl, daß …«
»Kann ich gehen, Monsieur?«
Maigret hörte nicht. Er antwortete dem Anwalt:
»Haben Sie denn noch immer nichts begriffen?«
»Nun,
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