Maigret und die alte Dame
stellen Sie sich wahrscheinlich eine ganz außerordentliche Persönlichkeit vor, aber in Wirklichkeit war alles ganz anders. Er war ein kleiner Apotheker in Le Havre, sogar ein ganz kleiner Apotheker in einem engen und düsteren Laden mit einem grünen und einem gelben Glas im Regal. Wie Sie gleich auf dem Foto sehen, sah er mit vierzig Jahren eher wie ein Angestellter vom Gaswerk aus, und seine Frau wirkte wie eine Putzfrau. Damals gab es noch nicht so viele kosmetische Artikel wie heute, und er bereitete alle möglichen Mittelchen selber zu. So stellte er einmal eine Creme für ein junges Mädchen her, das immer unter Akne litt. Sie war damit sehr zufrieden, und das hat sich erst im Viertel, dann in der Stadt herumgesprochen.
Ein Schwager riet ihm, das Produkt unter einem zugkräftigen Namen auf den Markt zu bringen, worauf dann beide diesen Namen erfunden haben. Dieser Schwager steckte auch das erste Kapital hinein. Beinahe über Nacht war er ein gemachter Mann. Es wurden Laboratorien eingerichtet, zuerst in Le Havre, dann in Pantin, später auch in der Nähe von Paris. Der Name Juva war in allen Zeitungen zu finden, dann stand er auch in Riesenlettern an den Hauswänden.
Sie können sich nicht vorstellen, was diese Produkte, wenn sie einmal auf dem Markt sind, einbringen.
Bessons erste Frau hatte davon nicht mehr viel, denn sie starb kurze Zeit später. Er fing an, ein ganz anderes Leben zu führen. Als ich ihn kennenlernte, war er schon ein sehr reicher Mann, der aber nicht mit Geld umgehen konnte und auch nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Ich glaube, deswegen hat er mich geheiratet.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass er eine hübsche Frau brauchte, die er überall herumzeigen konnte. Vor den Pariserinnen hatte er Angst. Bei Damen aus den gehobenen Kreisen in Le Havre hatte er Hemmungen. Er fühlte sich wohler bei einem Mädchen, das er hinter dem Ladentisch einer Konditorei kennengelemt hatte. Ich nehme sogar an, dass es ihm nichts ausmachte, dass ich Witwe war und selber ein Kind hatte. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen.«
Er verstand, was sie meinte, aber ihn erstaunte, dass sie ihren Mann so durchschaut hatte und so unbefangen darüber reden konnte.
»Gleich nach unserer Hochzeit kaufte er ein herrschaftliches Haus in der Avenue d’Iéna, einige Jahre später das Schloss in Anzi in der Sologne. Er überschüttete mich mit Schmuck, schickte mich in die Modesalons, führte mich ins Theater und auf die Rennbahn aus. Er ließ sogar eine Yacht bauen, auf der er aber niemals segelte, denn er wurde immer seekrank.«
»Glauben Sie, dass er glücklich war?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht in seinem Büro in der Rue Tronchet, wo er nur Untergebene um sich hatte. Ich glaube, woanders lebte er in der ständigen Furcht, man könnte sich über ihn lustig machen. Er war jedoch ein guter Mann und nicht weniger intelligent als die meisten anderen, die Geschäfte machen. Vielleicht ist er zu spät zu so viel Geld gekommen.
Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, ein Industriekapitän zu werden, und neben der Juva-Creme, die eine Goldgrube war, wollte er andere Produkte kreieren: eine Zahnpasta, eine Seife, was weiß ich alles, für deren Werbung er Millionen ausgegeben hat. Er ließ Fabriken bauen, aber nicht nur für die Herstellung der Produkte, sondern auch für deren Verpackung, und Theo, der in das Geschäft mit eingestiegen war, hatte vielleicht noch hochfliegendere Pläne.
So ging das fünfundzwanzig Jahre, Monsieur Maigret. Heute kann ich mich kaum mehr daran erinnern, so schnell ist das alles gegangen. Wir hatten nie Zeit. Wir fuhren von unserem Haus in Paris auf unser Schloss, von da nach Cannes oder Nizza, um in aller Eile nach Paris zurückzukehren, in zwei Autos, einem mit dem Gepäck, dem Diener, dem Zimmermädchen und der Köchin. Dann beschloss er, jedes Jahr eine Reise zu machen, und so fuhren wir nach London und Schottland, in die Türkei, nach Ägypten, immer alles im Eiltempo, weil ihn die Geschäfte zurückriefen; die Koffer immer voll mit Kleidern und Juwelen, die in jeder Stadt in einen Safe gebracht werden mussten.
Arlette heiratete dann, ich habe eigentlich nie herausgefunden, warum. Oder besser, ich habe nie erfahren, warum sie plötzlich diesen Jungen heiratete, den wir nicht einmal kannten, wo sie doch einen der reichen jungen Männer, die in unserem Haus verkehrten, hätte haben können.«
»Hatte Ihr Mann eine Schwäche für Ihre Tochter?«
»Geben Sie zu, dass
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