Maigret und die alte Dame
frappierend. Die junge Frau war ebenso zierlich wie ihre Mutter, hatte die gleichen feinen Gesichtszüge und vor allem dieselben hellen Augen.
»Das Sprichwort sagt, sie sieht so aus, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte, nicht wahr? Der arme Julien hat das auch geglaubt und sie trotz meiner Einwände geheiratet. Er ist ein braver Junge und äußerst tüchtig. Er hat mit nichts angefangen, beendete unter großen Schwierigkeiten sein Studium und arbeitet nun täglich zehn Stunden in seiner einträglichen Praxis in der Rue Saint-Antoine.«
»Glauben Sie, die beiden sind nicht glücklich?«
»Er vielleicht schon. Manche Leute machen ihr Glück ganz auf sich allein gestellt. Jeden Sonntag stellt er seine Staffelei irgendwo am Seineufer auf und malt. Sie besitzen ein Boot in der Nähe von Corbeil.«
»Liebt Ihre Tochter ihren Mann?«
»Schauen Sie die Fotos an und beantworten Sie die Frage selber. Vielleicht ist sie wirklich fähig, jemand zu lieben. Ich selber habe es nie gemerkt. Als ich in der Konditorei der Schwestern Seuret arbeitete - man hat Ihnen sicher schon davon erzählt -, sagte sie manchmal zu mir:
>Glaubst du vielleicht, es ist schön, eine Mutter zu haben, die meinen Freundinnen Kuchen verkauft!<
Als sie das sagte, war sie sieben Jahre alt. Wir wohnten beide in einem kleinen Zimmer über einem Uhrengeschäft, das heute noch existiert.
Als ich wieder heiratete, änderte sich auch ihr Leben...«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir von Ihrem ersten Mann zu erzählen? Es liegt mir daran, dies von Ihnen selber zu erfahren und nicht nur von anderen.«
Sie goss ihm noch einen Calvados ein und reagierte auf seine Frage nicht im geringsten betroffen.
»Ebenso gut kann ich in diesem Fall bei meinen Eltern beginnen. Ich bin eine geborene Fouqué, ein Name, der in dieser Gegend häufig vorkommt. Mein Vater war hier in Etretat Fischer. Meine Mutter arbeitete als Putzfrau in Häusern wie diesem, aber nur im Sommer, denn damals blieb den Winter über niemand hier. Ich hatte drei Brüder und eine Schwester, die alle schon gestorben sind. Einer meiner Brüder fiel im Krieg 1914, der andere starb an den Folgen eines Schiffsunglücks. Meine Schwester heiratete und starb im Kindbett. Mein dritter Bruder Lucien arbeitete als Friseurlehrling in Paris, geriet in schlechte Gesellschaft und wurde bei einem Streit in einem Café in der Nähe der Bastille erstochen. Ich schäme mich deswegen nicht. Ich habe meine Herkunft nie verleugnet. Wenn ich mich schämen würde, wäre ich bestimmt nicht hierher gezogen, um hier, wo jeder über alles Bescheid weiß, meine Tage zu beschließen.«
»Haben Sie schon gearbeitet, als Ihre Eltern noch lebten?«
»Mit vierzehn Jahren war ich Kindermädchen, dann Zimmermädchen in >Hôtel de la Plage<. In jener Zeit ist meine Mutter an Brustkrebs gestorben. Mein Vater ist ziemlich alt geworden, aber gegen Ende seines Lebens trank er so viel, dass er gar nicht mehr zu existieren schien. Ich habe dann einen jungen Mann aus Rouen, Henri Poujolle, kennengelemt, der bei der Post angestellt war, und wir heirateten. Er war nett, sehr ruhig, gut erzogen, und ich hatte damals noch keine Ahnung, was die roten Flecken auf seinen Wangen bedeuteten. Vier Jahre lang war ich Hausfrau und Mutter in einer Dreizimmerwohnung. Ich holte ihn immer mit dem Kinderwagen vom Büro ab. Sonntags kauften wir einen Kuchen bei den Schwestern Seuret. Einmal im Jahr fuhren wir zu meinen Schwiegereltern nach Rouen, die dort einen kleinen Lebensmittelladen in der Oberstadt besaßen.
Dann fing Henri an zu husten, und ein paar Monate später war er tot und ließ mich und Arlette allein zurück. Ich gab die Wohnung auf und nahm ein Zimmer. Die Schwestern Seuret haben mich dann als Verkäuferin angestellt. Ich muss damals hübsch gewesen sein und zog Kundschaft an. Eines Tages lernte ich im Laden Fernand Besson kennen.«
»Wie alt waren Sie damals?«
»Als wir ein paar Monate später heirateten, war ich dreißig Jahre.«
»Und er?«
»Ungefähr fünfundfünfzig. Er war seit ein paar Jahren Witwer, mit zwei Jungen im Alter von sechzehn und achtzehn Jahren. Ich befand mich in einer eigenartigen Situation, denn ich meinte immer, sie könnten sich in mich verlieben.«
»Taten Sie es nicht?«
»Theo vielleicht, aber nur am Anfang. Dann konnte er mich nicht mehr ausstehen, aber ich war ihm deswegen nicht böse. Kennen Sie Bessons Geschichte?«
»Ich weiß nur, dass er der Besitzer der Juva-Produkte war.«
»Also
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