Maigret und die alte Dame
überlegte.
»Jetzt verstehe ich.«
»Was verstehen Sie?«
»Ein paar Kleinigkeiten, die mir im ersten Moment nicht aufgefallen waren. Arlette wirkte den ganzen Tag über sehr zerstreut und beunruhigt. Nach dem Essen wollte sie mit den Kindern von Charles am Strand Spazierengehen und schien enttäuscht, als er selber dorthin wollte. Auf die Frage, warum ihr Mann sie nicht begleitet habe, antwortete sie, er müsse eine Landschaft am Ufer der Seine fertig malen.
>Bleibst du über Nacht?< fragte er sie.
>Ich weiß noch nicht. Ich glaube nicht. Es ist vielleicht besser, wenn ich mit dem Abendzug zurückfahre.<
Ich habe nicht lockergelassen. Mehrmals habe ich sie dabei ertappt, wie sie zum Fenster hinausschaute, und ich erinnere mich jetzt, dass bei Einbruch der Dunkelheit ein Auto zwei- oder dreimal beinahe im Schritttempo draußen vorbeifuhr.«
»Worüber haben Sie sich unterhalten?«
»Das ist schwer zu sagen. Mimi musste ihr Baby versorgen, es mehrmals wickeln, die Flasche vorbereiten, und den fünfjährigen Claude beruhigen, der die Rabatten zertrampelt hatte. Natürlich sprach man über die Kinder. Arlette sagte zu Mimi, dass das Jüngste für sie eine Überraschung gewesen sein muss nach fünf Jahren, wenn der Älteste schon fünfzehn war; Mimi antwortete, dass Charles keine mehr haben wollte und damit ja auch keine Arbeit habe...
Sehen Sie, wie es hier so geht. Wir tauschten Kochrezepte aus.«
»Ist Arlette nach dem Abendessen auf Ihr Zimmer mitgegangen?«
»Ja. Ich wollte ihr ein Kleid vorführen, das ich mir kürzlich machen ließ, und ich habe es in ihrem Beisein anprobiert.«
»Wo hielt sie sich auf?«
»Sie saß auf dem Bett.«
»Blieb sie auch einmal allein im Zimmer?«
»Vielleicht kurz, als ich das Kleid aus der kleinen Kammer holte, die ich als Wäschekammer benutze. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Arlette Gift in die Medizinflasche schüttete. Dazu hätte sie auch den Arzneimittelschrank öffnen müssen, der aber im Badezimmer hängt. Ich hätte es bestimmt gehört. Warum auch hätte Arlette es tun sollen? So ist also der arme Julien ein Hahnrei?«
»Ein Mann kam nach Mitternacht in Arlettes Zimmer und floh durch das Fenster, als er Rose stöhnen hörte.«
Sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
»Das war ja ein schöner Reinfall!«
Aber auch jetzt ängstigte sie das in keiner Weise.
»Wer ist es? Jemand von hier?«
»Jemand, der sie im Auto von Paris herbrachte; es ist ein gewisser Hervé Peyrot, ein Weinhändler.«
»Jung?«
»Um die Vierzig.«
»Ich hatte mich schon gewundert, dass sie mit dem Zug kam, wo ihr Mann doch ein Auto und sie den Führerschein hat. Das ist alles sehr sonderbar, Monsieur Maigret. Eigentlich bin ich doch froh, dass Sie da sind. Der Inspektor hat das Glas und die Medizinflasche mitgenommen und auch einige andere Gegenstände aus meinem Zimmer und dem Bad. Ich bin gespannt, was die Leute im Labor herausfinden. Es waren auch Polizisten in Zivil da, um Aufnahmen zu machen. Wenn Rose doch nicht so eigensinnig gewesen wäre! Ich hatte ihr gesagt, dass die Medizin komisch schmeckt, und als sie draußen war, musste sie trotzdem den Rest im Glas austrinken. Sie brauchte kein Schlafmittel, das können Sie mir glauben. Wie oft habe ich ihr Schnarchen gehört, gleich nachdem sie sich schlafen gelegt hatte? Vielleicht möchten Sie gerne das Haus sehen?«
Er war noch nicht einmal eine Stunde bei ihr und doch war sie ihm schon so vertraut, dass er meinte, sie seit langem zu kennen. Die ernste Gestalt der Putzfrau - sie war bestimmt Witwe! - erschien im Türrahmen.
»Essen Sie den Rest des Ragouts heute Abend, oder soll ich ihn der Katze geben?«
Sie fragte beinahe bissig und ohne dabei zu lächeln.
»Ich esse es, Madame Leroy.«
»Ich bin draußen fertig. Es ist alles geputzt. Wenn Sie mir helfen, die Möbel wieder nach oben zu tragen...«
Valentine lächelte verstohlen zu Maigret hinüber.
»Gleich.«
»Ich bin fertig mit meiner Arbeit.«
»Dann ruhen Sie sich einen Augenblick aus.«
Und sie ging vor ihm die enge Treppe hinauf, die nach Bohnerwachs roch.
3
Arlettes Liebhaber
Wenn Sie Lust haben, besuchen Sie mich, Monsieur Maigret. Ich möchte zumindest jederzeit zu Ihrer Verfügung stehen, wenn ich Sie schon aus Paris holen ließ. Sind Sie mir nicht zu sehr böse, dass ich Sie wegen dieser sonderbaren Geschichte bemüht habe?«
Sie standen im Garten und verabschiedeten sich. Die Witwe Leroy wartete immer noch auf ihre Herrin, die ihr helfen
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