Maigret und die alte Dame
Sie sich fragen, ob nicht mehr dahintersteckte. Ich habe mich das auch gefragt. Wenn ein Mann in einem gewissen Alter mit einem jungen Mädchen, das nicht seine Tochter ist, zusammenwohnt, ist es normal, dass er sich schließlich in sie verliebt. Ich habe die beiden beobachtet. Es stimmt, dass er sie mit Geschenken überhäufte und ihr jeden Wunsch erfüllte. Aber ich habe niemals etwas anderes bemerkt. Nein! Und ich weiß wirklich nicht, warum Arlette mit ihren zwanzig Jahren den ersten besten heiratete. Ich verstehe viele Leute, aber meine eigene Tochter habe ich nie verstanden.«
»Verstehen Sie sich gut mit Ihren Stiefsöhnen?«
»Theo, der Älteste, ging bald seine eigenen Wege, Charles dagegen benahm sich mir gegenüber immer so, als ob ich seine Mutter sei. Theo war nie verheiratet. Im ganzen hat er ein Leben geführt, wie es seinem Vater nie vergönnt war, weil er nicht darauf vorbereitet worden war. Warum schauen Sie mich so an?«
Immer dieser Widerspruch. Sie redete, ohne zu stocken, ab und zu mit einem Lächeln und dem immer gleichbleibenden offenherzigen Ausdruck in ihren hellen Augen, und er wunderte sich über das, was sie sagte.
»Wissen Sie, ich hatte viel Zeit nachzudenken in den fünf Jahren, in denen ich hier allein wohne! Theo war auf allen Rennplätzen zu finden, im Maxim, bei Fouquet, an allen Orten, die gerade in Mode waren. Den Sommer verbrachte er in Deauville. In dieser Zeit hielt er offenes Haus, war immer von jungen Leuten mit klangvollen Namen umgeben, die aber kein Geld hatten. Er hat diesen Lebensstil nie aufgegeben, oder besser, er sucht immer noch die gleichen Orte auf, aber jetzt ist er es, der ohne Geld dasteht und sich einladen lässt. Ich weiß nicht, wie er das fertigbringt.«
»Waren Sie nicht überrascht, als Sie erfuhren, dass er in Etretat sei?«
»Wir haben schon lange keinen Kontakt mehr. Ich habe ihn vor zwei Wochen in der Stadt gesehen und dachte, er sei auf der Durchreise. Dann brachte Charles ihn am Sonntag hierher und forderte uns beide auf, den alten Streit doch zu vergessen, und ich habe ihm die Hand hingehalten.«
»Hat er irgendeinen Grund für sein Hiersein angegeben?«
»Er sagte nur, er müsse sich erholen. Aber Sie haben mich aus dem Konzept gebracht. Ich war bei der Zeit stehengeblieben, in der mein Mann noch lebte; die letzten zehn Jahre verliefen nicht immer sehr glücklich.«
»Wann hat er dieses Haus gekauft?«
»Bevor die Geschäfte anfingen, schlechtzugehen; als wir noch unsere Stadtwohnung in Paris, das Schloss und all das Drum und Dran hatten. Ich gebe zu, dass ich es war, die dieses Refugium hier haben wollte, wo ich mich mehr als irgendwo anders zu Hause fühle.«
Lächelte er unwillkürlich? Sie fügte hastig hinzu:
»Ich weiß, was Sie denken, und vielleicht haben Sie nicht so ganz unrecht. In Anzi spielte ich die Schlossherrin, weil Fernand es von mir verlangte. Ich war Vorsitzende sämtlicher Wohltätigkeitsvereine und bei allen festlichen Anlässen dabei, aber niemand wusste, wer ich eigentlich bin. Es kam mir ungerecht vor, dass man mich in der Stadt, in der ich arm und bescheiden gelebt hatte, nicht in meinem neuen Glanz mitbekam. Das ist vielleicht kein sehr edler Zug, aber ich glaube, es ist menschlich. Ich sage es Ihnen lieber selber, weil es Ihnen sowieso jeder erzählen wird, und auch deshalb, weil einige mich nicht ohne Ironie die Schlossherrin nennen. Hinter meinem Rücken nennen sie mich lieber Valentine!
Ich habe mich nie um die Geschäfte gekümmert, aber es lag auf der Hand, dass Fernand zu viel in Angriff genommen hat und auch nicht immer zum richtigen Zeitpunkt. Vielleicht nicht so sehr, um den anderen zu imponieren, als um sich selbst zu beweisen, was er für ein großer Finanzmann war. Es fing damit an, dass wir die
Yacht verkaufen mussten, dann das Schloss. Eines Abends nach einem Ball gab ich ihm die Perlen, damit er sie wieder in den Safe legte, als er mit einem bitteren Lächeln sagte:
>Ich mache das nur der Leute wegen. Aber es wäre auch kein großes Unglück mehr, wenn man sie stehlen würde, denn es sind nur noch Imitationen.<
Er wurde immer schweigsamer und vereinsamte. Nur die Juva-Creme brachte noch Gewinn, während alle neuen Projekte der Reihe nach scheiterten.«
»Hing er an seinen Söhnen?«
»Ich weiß es nicht. Kommt Ihnen das eigenartig vor, wenn ich das sage? Man stellt sich immer vor, dass Eltern ihre Kinder lieben. Das scheint selbstverständlich zu sein. Jetzt frage ich mich, ob nicht das
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