Maigret und die alte Dame
Hausgehilfin seiner Stiefmutter wurde in der Nacht von Sonntag auf Montag vergiftet.«
»Lesen Sie die Zeitungen aus der Normandie?«
»Nein. Die alte Dame sitzt in meinem Büro.«
»Um Sie ebenfalls zu fragen, ob Sie nach Etretat kommen?«
»Genau. Sie ist eigens deswegen hergefahren, was zu der Überlegung Anlass gibt, dass sie von dem Vorgehen ihres Stiefsohnes keine Ahnung hat.«
»Was werden Sie tun?«
»Das hängt von Ihnen ab, Chef.«
Deshalb stieg Maigret am Mittwoch kurz nach halb neun Uhr morgens in Bréauté-Beuzeville schließlich in einen Zug, den man kaum als solchen bezeichnen konnte, so klein war er; er lehnte sich aus dem Wagenfenster, um das Meer zu sehen, sobald es auftauchen würde.
Der Himmel hellte sich auf, je mehr man sich dem Meer näherte, und erstrahlte in leuchtendem Blau mit nur vereinzelten leichten, weißen Wölkchen, als der Zug die hügeligen Weiden hinter sich gelassen hatte.
Maigret hatte tags zuvor bei der Brigade Mobile in Le Havre angerufen, um Inspektor Castaing von seiner Ankunft zu unterrichten, aber er schaute umsonst nach ihm aus. Frauen in Sommerkleidern und halbnackte Kinder gaben dem Bahnsteig eine fröhliche Note. Der Bahnhofsvorsteher musterte etwas ratlos die Reisenden und ging auf den Kommissar zu:
»Sind Sie zufällig Monsieur Maigret?«
»Zufällig ja.«
»Dann habe ich eine Nachricht für Sie.«
Er gab ihm einen Umschlag. Castaing schrieb ihm:
»Entschuldigen Sie, wenn ich nicht da bin, um Sie zu begrüßen. Ich bin auf der Beerdigung in Yport. Ich empfehle Ihnen das >Hôtel des Anglais< und hoffe, bis zum Mittagessen zurück zu sein. Ich werde Ihnen dann alles berichten.«
Es war erst zehn Uhr morgens, und Maigret, der nur einen leichten Koffer bei sich hatte, ging zu Fuß in das am Strand gelegene Hotel.
Aber bevor er hineinging, wollte er trotz seines Koffers das Meer und die weißen Klippen an beiden Enden des Kiesstrands sehen; Jungen und Mädchen vergnügten sich in den Wellen, andere spielten hinter dem Hotel Tennis; in den Strandkörben saßen Mütter und strickten, und am Strand gingen gemächlich ältere Paare.
Als er aufs Gymnasium ging, hatte er jedes Jahr gesehen, wie die Kameraden aus den Ferien zurückkamen, braungebrannt, voller Erlebnisse und mit Muscheln in den Hosentaschen. Er verdiente schon, als er zum ersten Mal das Meer erblickte.
Es stimmte ihn etwas traurig, dass er nicht mehr dieses erregende Gefühl bei sich feststellte und den blendendweißen Schaum der Wellen ebenso gleichgültig wahrnahm wie den Bademeister mit den nackten tätowierten Armen in seinem Boot, das von Zeit zu Zeit hinter einer großen Welle verschwand.
Der Geruch im Hotel war genauso, wie er ihn in Erinnerung hatte, und auf einmal fehlte ihm Madame Maigret, mit der zusammen er diesen Geruch immer geschnuppert hatte.
»Wollen Sie länger bleiben?« wurde er gefragt.
»Ich weiß noch nicht.«
»Ich frage deshalb, weil wir am 15. September schließen und heute schon der 6. ist.«
Alles wäre dann geschlossen wie ein Theater, die Andenkenstände, die Konditoreien; überall wären die Jalousien heruntergelassen, und der verwaiste Strand gehörte dann wieder dem Meer und den Möwen.
»Kennen Sie Madame Besson?«
»Valentine? Gewiss kenne ich sie. Sie stammt aus der Gegend hier. Sie ist hier geboren, ihr Vater war Fischer. Als Kind habe ich sie nicht gekannt, weil ich jünger bin als sie, aber ich sehe sie noch vor mir als Verkäuferin bei den Geschwistern Seuret. Eine der beiden Schwestern ist gestorben, die andere lebt noch. Sie ist 92 Jahre alt; ihr Haus steht gleich neben dem von Valentine, mit einem blauen Gartenzaun. Dürfte ich Sie bitten, diesen Zettel auszufüllen?«
Der Geschäftsführer - vielleicht war es auch der Besitzer - las ihn durch und schaute Maigret neugierig an:
»Sind Sie der Maigret von der Polizei? Und Sie kommen extra aus Paris wegen dieser Geschichte?«
»Inspektor Castaing ist hier abgestiegen, nicht?«
»Das heißt, er nimmt seit Montag meistens die Mahlzeiten hier ein, aber abends fährt er nach Le Havre zurück.«
»Ich erwarte ihn.«
»Er ist auf der Beerdigung in Yport.«
»Ich weiß.«
»Glauben Sie, dass man wirklich versucht hat, Valentine zu vergiften?«
»Ich hatte noch nicht genug Zeit, um mir ein Bild zu machen.«
»Wenn es stimmen sollte, kann es nur jemand aus der Familie gewesen sein.«
»Sprechen Sie von ihrer Tochter?«
»Ich spreche von niemand im Besonderen. Ich weiß nichts. Letzten Sonntag
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