Brenda Joyce
Kapitel 1
DONNERSTAG, 27. MÄRZ 1902 – NEW YORK CITY
Francesca
Cahill, die der feinen Gesellschaft von New York City angehörte, war eine
reiche Erbin im heiratsfähigen Alter, aber seit kurzem machte sie Furore als
die bekannteste (und berüchtigtste) Amateurdetektivin der Stadt. Sie hatte
sich nie um Konventionen geschert, war belesen, gebildet, eine aktive
Reformistin und stand bereits in dem Ruf, sie sei eine Exzentrikerin und nicht
unter die Haube zu bekommen. Ihr Verhalten in den vergangenen drei Monaten
hatte ein Übriges getan, denn sie hatte dem Commissioner der New Yorker
Polizei, Rick Bragg, bei der Aufklärung mehrerer schrecklicher Verbrechen
geholfen und war dadurch in die Schlagzeilen der angesehensten Tageszeitungen
der Stadt geraten. Ein großer Teil der höheren Gesellschaft – ganz zu
schweigen von Francescas Familie – war schockiert.
Ihr Ruf war ruiniert, was sie aber nicht sonderlich störte.
Allerdings schienen die Dinge gerade eine erstaunliche Wendung zum Guten zu
nehmen, denn es war Francesca gelungen, sich heimlich mit dem reichsten und
begehrtesten Junggesellen der Stadt, Calder Hart, zu verloben. Zwar hegte sie
noch immer Bedenken an ihrer Entscheidung, aber wenn ihre Verlobung tatsächlich
all ihre Eskapaden überstehen sollte, dann würde die öffentliche
Bekanntmachung sie vom hässlichen Entlein in einen Schwan verwandeln.
Allerdings bezweifelte sie zurzeit ernsthaft, dass Hart überhaupt
jemals wieder ein Wort mit ihr wechseln würde – von der Fortführung ihrer
Verlobung ganz zu schweigen.
Bei diesem Gedanken empfand sie Erleichterung und Bedauern
zugleich.
»Francesca Cahill! Du bist für einen ganzen Monat einfach
verschwunden! Ich brenne darauf, zu erfahren, warum!«, rief die ehemalige
Connie Cahill, nun Lady Montrose, die gerade in Francescas Zimmer geplatzt
war.
Francesca zuckte angesichts ihrer stets modisch gekleideten,
furchtbar eleganten älteren Schwester innerlich zusammen. Welch eine Ironie,
dass halb New York sie für eine Heldin hielt! Dabei war sie doch in
Wahrheit ein Feigling, ganz gleich, wie viele Mörder und sonstige
gemeingefährliche Schurken sie im Alleingang zur Strecke gebracht hatte. Sie
war ein Feigling, denn nur ein Feigling lief vor dem Mann davon, den sie
eigentlich heiraten wollte. Ja, wenn es um den attraktiven, geheimnisvollen
Calder Hart ging, war sie tatsächlich ein Feigling.
Connie schloss die Tür von Francescas
geschmackvoll eingerichtetem Zimmer – einem Zimmer, dessen Gestaltung
Francesca bereitwillig ihrer Mutter und ihrer Schwester überlassen hatte, da
sie sich für so etwas nicht interessierte. Einrichtung, Mode, Einkaufsbummel
und Teegesellschaften bedeuteten ihr nichts. Francesca zwang sich zu einem Lächeln
und eilte in Korsett und Unterhose auf ihre Schwester zu, um sie zu umarmen.
»Wie schön, dich zu sehen«, flüsterte sie, und ihre Freude war aufrichtig.
Connie war nicht nur ihre Schwester, sondern auch ihre beste Freundin.
»Versuch gar nicht erst, mir etwas vorzumachen«, sagte Connie und
stemmte die Hände in ihre schlanke Taille. Sie trug ein hinreißendes
dunkelblaues Abendkleid und weiße Handschuhe aus Baumwollsatin, die bis zu den
Ellenbogen reichten, dazu eine Saphir-Halskette und dazu passende Armbänder.
»Ich weiß, warum du verschwunden bist!« Ihre blauen Augen funkelten.
Francesca verspürte eine leichte Nervosität.
Connie konnte unmöglich davon wissen. Bevor sie die Stadt verlassen hatte –
unter dem Vorwand, sie wolle eine kranke ehemalige Schulfreundin besuchen –,
hatte sie Hart eine kurze Nachricht zukommen lassen, in der sie ihm zwar nichts
erklärte, ihn jedoch bat, bis zu ihrer Rückkehr nach New York Stillschweigen
über ihre Verlobung zu bewahren. Wohlweislich hatte Francesca keine
Nachsendeadresse hinterlassen. Sie war aus der Stadt verschwunden, um über ihr
Leben und ihren spontanen Entschluss, Harts Antrag anzunehmen, nachzudenken.
»Was glaubst du darüber zu wissen?«
Connie seufzte. »Es gibt keine Elizabeth Jane Seymour, Fran. Ich
würde mich an eine beste Freundin dieses Namens erinnern! Du hast die Stadt
verlassen, weil dir dieses Dilemma, in das du dich hineinmanövriert hast, über
den Kopf gewachsen ist.« Die platinblonde Connie, die allgemein als große
Schönheit galt, musterte ihre jüngere Schwester mit einer gewissen Genugtuung.
Nun war es an Francesca, zu seufzen. Es widerstrebte ihr zutiefst,
unaufrichtig zu anderen zu sein, erst recht zu ihrer eigenen
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