Maigret zögert
Präsidenten des Kassationsgerichts ernannt. Er dürfte sich inzwischen in sein Schloss in der Vendée zurückgezogen haben. Die Familie ist sehr reich.«
»Sonst wissen Sie nichts?«
»Was soll ich sonst noch wissen? Ich musste diese Leute noch nie vor der Strafkammer oder dem Schwurgericht verteidigen.«
»Gehen sie oft aus?«
»Die Parendons? Auf jeden Fall nicht in den Kreisen meiner Bekannten.«
»Danke, mein Guter.«
»Sie werden sich revanchieren müssen!«
Maigret las noch einmal den Brief, den Lapointe wieder auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. Er las ihn ein drittes, viertes Mal, wobei sich sein Gesicht immer mehr verfinsterte.
»Verstehst du, was das alles bedeutet?«
»Ja, Chef. Mordsärger. Entschuldigen Sie das Wort, aber...« »Das ist wahrscheinlich noch zu harmlos ausgedrückt. Ein berühmter Chirurg, ein Oberster Präsident, ein Spezialist für Seerecht, der in der Avenue Marigny wohnt und kostbarstes Briefpapier benutzt...«
Die Art von Klientel, die Maigret am meisten fürchtete. Schon jetzt hatte er das Gefühl, auf Kohlen zu sitzen.
»Glauben Sie, dass er selbst den Brief geschrieben hat?«
»Er oder jemand aus seiner Familie, jedenfalls jemand, der Zugang zu seinem Briefpapier hat.«
»Ist schon seltsam, nicht wahr?«
Maigret, der aus dem Fenster blickte, antwortete nicht. Leute, die anonyme Briefe schreiben, verwenden normalerweise nicht ihr eigenes Briefpapier, und schon gar nicht so ausgefallenes.
»Nichts zu machen! Ich muss hin.«
Er schaute im Telefonbuch die Nummer nach und wählte selbst durch. Eine Frauenstimme antwortete:
»Hier ist die Sekretärin von Maître Parendon.«
»Guten Tag, Mademoiselle. Hier spricht Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei. Ich will nicht stören, aber könnte ich kurz mit Maître Parendon sprechen?«
»Einen Augenblick, bitte. Ich werde nachsehen.«
Alles lief wie am Schnürchen. Schon meldete sich eine Männerstimme:
»Hier ist Parendon.«
Es klang fast wie eine Frage.
»Ich wollte Sie bitten, Maître...«
»Wer ist am Apparat. Meine Sekretärin hat Ihren Namen nicht richtig verstanden.«
»Kommissar Maigret.«
»Jetzt verstehe ich ihre Verwunderung. Sie hat Sie sicher richtig verstanden, konnte sich aber nicht vorstellen, dass es tatsächlich Sie sind, der... Es freut mich sehr, Ihre Stimme zu hören, Monsieur Maigret. Ich habe oft an Sie gedacht. Ich habe mir sogar schon manches Mal überlegt, ob ich Ihnen nicht schreiben sollte, um Sie um Ihre Meinung über bestimmte Probleme zu bitten. Da ich aber weiß, dass Sie immer sehr beschäftigt sind, habe ich es nicht gewagt...«
Eine gewisse Schüchternheit lag in der Stimme Parendons, und doch hatte Maigret die größeren Hemmungen und kam sich mit diesem Brief, der keinerlei Sinn ergab, sehr lächerlich vor.
»Sehen Sie, nun bin ich es, der Sie in Ihrer Arbeit stört. Und das obendrein wegen einer Lappalie. Ich würde lieber unter vier Augen mit Ihnen darüber sprechen, denn ich muss Ihnen einen Brief zeigen...«
»Wann passt es Ihnen?«
»Hätten Sie irgendwann am Nachmittag einen Augenblick Zeit?«
»Wäre Ihnen halb vier recht? Ich muss Ihnen gestehen, dass ich für gewöhnlich ein kurzes Mittagsschläfchen halte und dass ich mich ohne nicht recht auf dem Posten fühle.«
»Einverstanden. Dann komme ich um halb vier. Und vielen Dank für Ihr freundliches Entgegenkommen.«
»Ich freue mich sehr auf Ihren Besuch.«
Als er auflegte, sah er Lapointe an, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht.
»Schien er nicht überrascht?«
»Ganz und gar nicht. Er hat keine Fragen gestellt. Angeblich freut er sich sehr, meine Bekanntschaft zu machen... Aber eines macht mir Kopfzerbrechen. Er behauptet, er sei schon ein paarmal nahe daran gewesen, mir zu schreiben, um mich um eine Stellungnahme zu bitten. Dabei führt er gar keine strafrechtlichen Prozesse, sondern nur zivilrechtliche. Von seinem Spezialgebiet, dem Seerecht, verstehe ich kein Wort. Warum also mich um meine Meinung angehen?«
Maigret log, als er mittags seine Frau anrief und sich wegen zuviel Arbeit vom Essen abmeldete. Er hatte Lust, die Frühlingssonne mit einem Mittagessen in der >Brasserie Dauphine< zu feiern, wo er sich sogar einen Pastis am Tresen genehmigte.
Wenn, wie Lapointe gesagt hatte, Mordsärger auf ihn zukam, so begann er zumindest auf angenehme Art.
Maigret fuhr mit dem Bus bis zum Rond-Point und ging die letzten hundert Meter zu Fuß die Avenue Marigny hinunter, wobei ihm mindestens drei Leute
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