Maigret zögert
ändern ihre Persönlichkeit, sobald sie den Gerichtssaal betreten.«
Er trug einen dunkelgrauen Anzug. Der Schreibtisch, auf dem seine Ellbogen ruhten, war viel zu groß für ihn. Dennoch wirkte er nicht lächerlich. Und die großen Augen hinter den dicken Brillengläsern blickten nicht unbedingt naiv.
Als Schulkind hatte er vielleicht darunter gelitten, dass man ihn eine halbe Portion nannte, aber er hatte sich damit abgefunden und machte jetzt den Eindruck eines liebenswerten Gnoms von überschäumendem Temperament.
»Darf ich Ihnen eine indiskrete Frage stellen? In welchem Alter haben Sie begonnen, die Menschen zu verstehen?... Ich meine jene Menschen, die man als Kriminelle bezeichnet.«
Maigret errötete, stammelte:
»Ich weiß nicht... Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich sie verstehe.«
»Oh, doch! Und die spüren das genau! Das ist zum Teil der Grund, warum sie fast erleichtert sind, wenn sie ihr Geständnis ablegen.«
»Dasselbe gilt auch für meine Kollegen.«
»Ich könnte Ihnen das Gegenteil beweisen, indem ich Sie an bestimmte Fälle erinnere, aber das würde Sie nur langweilen. Sie haben Medizin studiert, nicht wahr?«
»Nur zwei Jahre.«
»Nach dem, was ich gelesen habe, mussten Sie, als Ihr Vater starb, das Studium abbrechen und traten dann in den Polizeidienst ein.«
Maigrets Lage wurde immer heikler, fast lächerlich. Er war gekommen, um Fragen zu stellen, und nun war er es, der befragt wurde!
»So ein Wechsel bedeutet meiner Ansicht nach nicht, dass man sich zu beiden Berufen hingezogen fühlt, sondern ist nur ein anderer Weg der Verwirklichung ein und derselben Persönlichkeit... Verzeihen Sie mir. Ich habe mich buchstäblich auf Sie gestürzt, seit Sie zur Tür herein sind. Ich habe Sie voller Ungeduld erwartet. Ich hätte Ihnen gern selbst aufgemacht, als Sie klingelten, aber meiner Frau wäre das nicht recht gewesen, sie legt Wert auf eine gewisse Etikette.«
Seine Stimme war bei den letzten Worten viel leiser geworden, und mit einem Wink auf ein Gemälde, das einen Richter im Hermelinpelz in fast voller Lebensgröße darstellte, flüsterte er:
»Mein Schwiegervater.«
»Präsident Gassin de Beaulieu...«
»Sie kennen ihn?«
Seit einigen Augenblicken kam Parendon ihm so kindlich vor, dass er ihm lieber gestand:
»Ich habe mich erkundigt.« »Hat man Ihnen etwas Schlechtes über ihn berichtet?«
»Er war anscheinend ein großartiger Richter.«
»Jawohl! Ein großartiger Richter! Kennen Sie die Werke von Henri Ey?«
»Ich habe sein Handbuch der Psychiatrie gelesen.«
»Sengès? Levy-Valensi? Maxwell?«
Er deutete auf ein Regal in der Bücherwand, in dem die Werke dieser Autoren standen. Sie alle aber waren Psychiater, die sich niemals mit dem Seerecht befasst hatten. Maigret ließ seinen Blick wandern und entdeckte weitere Namen, die, wie er wusste, in den Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Kriminologie zitiert wurden, und wieder andere, deren Werke er tatsächlich gelesen hatte: Lagache, Ruyssen, Genil-Perrin...
»Rauchen Sie nicht?« fragte ihn sein Gastgeber plötzlich erstaunt. »Ich glaubte, Sie würden Ihre Pfeife immer im Mund haben.«
»Wenn Sie gestatten...«
»Was darf ich Ihnen anbieten? Mein Cognac ist nicht gerade der beste, aber ich habe einen fast vierzig Jahre alten Armagnac.«
Er trottete zu einem zwischen den Bücherregalen eingelassenen Likörschränkchen, in dem an die zwanzig Flaschen und Gläser verschiedener Größe standen.
»Nur sehr wenig, bitte.«
»Meine Frau erlaubt mir nur bei besonderen Anlässen ein kleines Schlückchen. Sie behauptet, ich hätte eine schwache Leber. Ihrer Meinung nach ist alles an mir zerbrechlich und besitze ich kein einziges robustes Organ.«
Es amüsierte ihn. Er sprach ohne Bitterkeit darüber.
»Auf Ihre Gesundheit! Ich habe Ihnen diese indiskreten Fragen gestellt, weil ich mich leidenschaftlich mit dem Artikel 64 des Strafgesetzbuches beschäftige, den Sie ja besser kennen als ich.«
Maigret kannte ihn tatsächlich auswendig. Er hatte ihn sich noch und noch durch den Kopf gehen lassen.
Ein Verbrechen oder ein Vergehen liegt nicht vor, wenn der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat im Zustand der Geistesgestörtheit war oder wenn ihn eine Kraft dazu trieb, der er sich nicht widersetzen konnte.
»Wie denken Sie darüber?« fragte der Gnom und beugte sich zu ihm hinüber.
»Ich bin froh, kein Richter zu sein. So brauche ich nicht zu urteilen...«
»Nun, es freut mich, das zu hören. Wenn
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