Maigret zögert
im Haus. So was wäre ihr unerträglich. Als Monsieur Gus noch klein war, wünschte er sich zu Weihnachten einen kleinen Hund. Statt dessen bekam er eine elektrische Eisenbahn. Ich habe nie einen Jungen vor Wut so toben sehen wie ihn damals.«
»Und die anderen Male?« »Einmal war es ein Brandgeruch. Beim dritten Mal... Warten Sie... Ach ja, sie hatte an der Tür von Monsieur gelauscht und keine Atemzüge gehört. Ich musste hinein und nachsehen, ob ihm nichts passiert war.«
»Konnte sie nicht selbst reingehen?«
»Ich nehme an, sie hatte ihre Gründe. Ich will mich nicht beklagen. Da sie jeden Nachmittag und fast jeden Abend ausgeht, sind mir genug ruhige Minuten vergönnt.«
»Verstehen Sie sich gut mit Lise?«
»Recht gut. Sie ist ein hübsches Ding. Eine Zeitlang ... Nun, Sie wissen, was ich meine. Sie braucht Abwechslung. Fast jeden Samstag ist es ein anderer. Und da ich nicht gern teile...«
»Madame Vauquin?«
»Eine alte Kuh!«
»Hat sie etwas gegen Sie?«
»Sie zählt uns die Portionen ab, als wären wir Kostgänger, und beim Wein ist sie noch knausriger, bestimmt, weil ihr Mann ein Trinker ist, der sie mindestens zweimal in der Woche verdrischt. Also ist sie auf alle Männer böse.«
»Madame Marchand?«
»Ich sehe sie nur, wenn sie ihren Staubsauger vor sich herschiebt. Diese Frau ist nicht der Typ, der viel redet, nur wenn sie ganz allein ist, bewegen sich ihre Lippen. Vielleicht betet sie im stillen.«
»Mademoiselle?«
»Sie ist weder stolz noch irgendwie geziert. Schade, dass sie immer so traurig ist.«
»Glauben Sie, sie hat Liebeskummer?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ist es die Stimmung im Haus.« »Haben Sie von den Briefen gehört?«
Er schien verlegen.
»Ehrlich gesagt, ja. Aber ich habe sie nicht gelesen.«
»Wer hat Ihnen davon berichtet?«
Er wurde noch verlegener, tat, als dächte er angestrengt nach.
»Ich weiß nicht. Sehen Sie, ich komme und gehe, rede mal mit diesem, mal mit jenem ein paar Worte.«
»Mademoiselle Vague?«
»Nein. Sie spricht nie über die Angelegenheiten von Monsieur.«
»Monsieur Tortu?«
»Der? Der guckt mich an, als sei er der zweite Chef des Hauses.«
»Julien Baud?«
»Vielleicht. Wirklich, ich weiß es nicht. Es war vielleicht im Dienstbotenzimmer.«
»Wissen Sie, ob es Waffen im Haus gibt?«
»Monsieur hat in seiner Nachttischschublade einen 38er Colt, aber ich habe keine Patronen im Zimmer gesehen.«
»Räumen Sie sein Schlafzimmer auf?«
»Das gehört zu meinen Aufgaben. Und ich serviere natürlich auch bei Tisch.«
»Sie wissen von keiner anderen Waffe?«
»Doch. Madames kleines Spielzeug, eine in Herstal hergestellte 6.33. Man müsste damit schon aus nächster Nähe schießen, um jemandem weh zu tun.«
»Haben Sie in der letzten Zeit eine Veränderung in der Atmosphäre des Hauses bemerkt?«
Er schien zu überlegen.
»Möglich. Bei Tisch reden sie ja nie viel miteinander. Jetzt, würde ich fast sagen, reden sie überhaupt nichts mehr. Bis auf wenige Worte, die Monsieur Gus und Mademoiselle ab und zu wechseln.«
»Glauben Sie an die Briefe?«
»Etwa so wie an die Astrologie. Nach den Zeitungshoroskopen müsste ich mindestens einmal in der Woche viel Geld bekommen.«
»Sie glauben also nicht, dass etwas passieren könnte?«
»Nicht aufgrund der Briefe.«
»Aufgrund wovon?«
»Ich weiß nicht.«
»Kommt Monsieur Parendon Ihnen absonderlich vor?«
»Kommt darauf an, was man mit absonderlich meint. Jeder hat seine eigene Vorstellung von dem Leben, das er führt. Wenn er damit zufrieden ist... Jedenfalls ist er nicht verrückt. Ich würde sogar sagen, im Gegenteil...«
»... dass sie verrückt wäre?«
»Auch nicht! Oh, la, la! Diese Frau ist gerissen wie ein Fuchs!«
»Ich danke Ihnen, Ferdinand.«
»Ich tu mein Bestes, Herr Kommissar. Ich weiß aus Erfahrung, dass es immer besser ist, offenes Spiel mit der Polizei zu spielen.«
Die Tür fiel hinter Maigret zu, der die breite Treppe mit dem schmiedeeisernen Geländer hinabschritt. Er hob grüßend die Hand, als er an dem Pförtner vorbeikam, der wie ein Palastdiener herausgesputzt war, und atmete mit einem erleichterten Seufzer die frische Luft vor dem Portal ein.
Er erinnerte sich an eine nette Bar an der Ecke der Rue Marigny und der Rue du Cirque, und wenige Minuten später lehnte er dort an der Theke. Er überlegte, was er trinken sollte, und entschied sich schließlich für ein Bier. Die Atmosphäre der Parendons klebte ihm noch am Körper. Aber wäre es nicht
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