Maigret zögert
aufgestellt darüber, womit jedes einzelne Mitglied des Personals zwischen Viertel nach neun und zehn Uhr beschäftigt war. Kurz nach halb zehn haben Sie im Salon Staub gewischt... Stimmt das?«
Noch ein Blick auf Madame Parendon, die nicht aufschaute, dann eine schwache Stimme:
»Es stimmt.«
»Um wieviel Uhr sind Sie in den Salon gegangen?«
»Gegen halb zehn. Kurz darauf...«
»Sie haben Madame Parendon also nicht zu den Büros gehen sehen?«
»Nein.«
»Aber kurz nach Ihrem Eintreten, als Sie sich hinten im Raum aufhielten, sahen Sie sie in die andere Richtung gehen, das heißt also in Richtung dieses Boudoirs?«
»Was soll ich tun, Madame?«
»Das ist Ihr Problem, Kindchen. Beantworten Sie die Frage, die man Ihnen stellt.«
Tränen kullerten über Lises Wangen, das Taschentuch, das sie aus ihrer Schürzentasche gezogen hatte, war ein feuchtes Knäuel.
»Hat man Ihnen etwas gesagt?« fragte sie naiv.
»Befolgen Sie den Rat und beantworten Sie meine Frage.«
»Um damit Madame zu belasten?«
»Um damit eine andere Zeugenaussage zu bestätigen, die Aussage einer in der Rue du Cirque wohnhaften Person, die Sie alle beide von ihrem Fenster aus gesehen hat.«
»Nun, dann hat es keinen Sinn zu lügen. Es ist wahr... Verzeihen Sie, Madame.«
Sie wollte zu ihrer Chefin stürzen, sich ihr vielleicht zu Füßen werfen, aber Madame Parendon entgegnete kalt:
»Wenn der Kommissar Sie nicht mehr braucht, können Sie gehen.«
Schluchzend verließ das Mädchen den Raum.
»Was beweist das schon?« fragte die Frau. Sie hatte sich wieder erhoben, zwischen ihren Lippen zitterte eine Zigarette, und die Hände hatte sie in den Taschen ihres blauen Negligés vergraben.
»Dass Sie mindestens einmal gelogen haben.«
»Ich bin hier in meinen eigenen vier Wänden und brauche über mein Kommen und Gehen keine Rechenschaft abzulegen.«
»In einem Mordfall doch. Ich hatte Sie gewarnt, als ich meine Fragen stellte.«
»Und das bedeutet nun, dass Sie mich festnehmen werden.«
»Ich werde Sie bitten, mich zum Quai des Orfevres zu begleiten.«
»Haben Sie einen Haftbefehl?«
»Einen Blankobefehl, ja. Ich brauche nur noch Ihren Namen einzutragen.«
»Was geschieht dann?«
»Das hängt nicht mehr von mir ab.«
»Von wem?«
»Vom Untersuchungsrichter. Und dann zweifellos auch von den Ärzten.«
»Denken Sie, ich bin verrückt?«
Er las Panik in ihren Augen.
»Antworten Sie mir! Denken Sie, ich bin verrückt?«
»Darüber steht mir kein Urteil zu.«
»Ich bin nicht verrückt, hören Sie?... Und selbst wenn ich getötet habe, was ich weiterhin ableugne, so geschah es nicht in einem Anfall von Wahnsinn!«
»Darf ich Sie bitten, mir Ihren Revolver zu geben?«
»Holen Sie ihn selbst. Er liegt in der oberen Schublade meines Frisiertischs.«
Er ging ins Schlafzimmer, wo alles in einem blassen Rosa gehalten war. Die beiden Räume, der eine blau, der andere rosa, erinnerten an ein Gemälde von Marie Laurencin.
Das breite niedrige Bett im Louis-XVI-Stil war noch nicht gemacht. Die Möbel waren in hellem Grau gestrichen. Auf dem Frisiertisch entdeckte er Cremetöpfchen und Fläschchen, die ganze Serie von Produkten, mit denen die Frauen gegen das Altern ankämpfen.
Er zuckte die Schultern. Der Anblick dieser intimen Dinge machte ihn melancholisch. Er dachte an Gus, der den ersten Brief schrieb. Hätten die Dinge auch ohne sein Eingreifen diesen Lauf genommen?
Er nahm den Revolver aus der Schublade, in der auch Schmuckschatullen lagen.
Er wusste keine Antwort auf diese Frage. Vielleicht hätte Madame Parendon anstelle des Mädchens ihren Mann umgebracht? Vielleicht hätte sie noch ein paar Tage gewartet? Vielleicht hätte sie eine andere Waffe benutzt?
Mit düsterer Miene kehrte er in das Boudoir zurück, wo die Frau mit dem Rücken zu ihm am Fenster stand. Er entdeckte, dass dieser Rücken sich zu krümmen begann, und die Schultern schienen ihm nun schmaler, knochiger.
Die Waffe in der Hand, sagte er:
»Ich möchte offen zu Ihnen sprechen. Ich kann noch gar nichts beweisen, aber ich bin überzeugt, dass sich dieser Revolver, als Sie kurz nach halb zehn durch den Salon gingen, in der Tasche Ihres Morgenmantels befand ...
Ich frage mich sogar, ob Sie in jenem Augenblick nicht noch die Absicht hatten, Ihren Mann zu töten.
Mit der Aussage des kranken Mannes in der Rue du Cirque wird sich das vielleicht klären lassen. Bestimmt sind Sie an seine Tür gegangen. Sie haben Stimmen gehört, denn Ihr Mann besprach sich
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