Maigrets Nacht an der Kreuzung
einen toten Mann, getötet durch einen Schuß in die Brust aus nächster Nähe. Seine Papiere hat man ihm nicht gestohlen. Ein Mann namens Isaac Goldberg, Diamantenhän d ler in Antwerpen.«
Maigret füllte den Ofen nach, während er weitersprach:
»Die Gendarmerie ist flink, wendet sich sofort an die Bahnhofsbeamten in Arpajon, die gesehen haben, wie Sie in Begleitung Ihrer Schwester den ersten Zug nach Paris genommen haben. Sie werden beide bei Ihrer Ankunft an der Gare d’Orsay in Empfang genommen. Sie leugnen alles …«
»Ich leugne, irgend jemanden getötet zu haben.«
»Sie leugnen auch, Isaac Goldberg zu kennen.«
»Als ich ihn das erste Mal sah, war er tot, saß am Steuer eines Wagens, der mir nicht gehört, der aber in meiner Garage stand.«
»Und anstatt die Polizei zu rufen, fliehen Sie mit Ihrer Schwester.«
»Ich hatte Angst.«
»Sie haben nichts hinzuzufügen?«
»Nichts.«
»Und Sie bleiben dabei, daß Sie in der Nacht von Samstag auf Sonntag nichts gehört haben?«
»Ich habe einen sehr tiefen Schlaf.«
Zum fünfzigsten Male wiederholte er nun exakt dieselben Worte, und Maigret drückte erschöpft auf die elektrische Klingel. Inspektor Lucas kam herein.
»Ich bin gleich wieder da!«
Die Unterhaltung zwischen Maigret und Untersuchungsrichter Coméliau, dem der Fall vorgelegt worden war, dauerte etwa eine Viertelstunde.
»Sie werden sehen, das ist ein Fall, wie man ihn zum Glück nur alle zehn Jahre erlebt und der nie ganz aufgeklärt werden wird. Und ich bin dann der Sündenbock … Da paßt kein Detail zum anderen! Warum diese Vertauschung der Autos? Und warum benutzt Andersen für die Flucht nicht den Wagen, der in seiner Garage steht? Warum geht er statt dessen zu Fuß nach Arpajon, um den Zug zu nehmen? Was hatte dieser Diamantenhän d ler an der Kreuzung der Drei Witwen zu schaffen? … Glauben Sie mir, Maigret! Auf Sie wie auf mich wird eine ganze Reihe von Unannehmlichke i ten zukommen. Lassen Sie ihn frei, wenn Sie wollen. Vielleicht haben Sie gar nicht so unrecht, wenn Sie glauben, daß nun, nachdem er ein siebzehnstündiges Verhör durchgeha l ten hat, nichts mehr aus ihm herauszukriegen ist.«
Die Augen des Kommissars waren ein wenig gerötet, weil er zuwenig geschlafen hatte.
»Haben Sie die Schwester gesehen?«
»Nein. Als Andersen mir vorgeführt wurde, war das Mädchen von der Gendarmerie schon wieder nach Hause gebracht worden; man wollte sie an Ort und Stelle verhören. Sie ist dageblieben und wird überwacht.«
Sie gaben sich die Hand. Maigret ging zurück in sein Büro, wo Lucas müde den Gefangenen beobachtete, der seine Stirn an die Fensterscheibe preßte und geduldig wartete.
»Sie sind frei!« sagte er gleich an der Tür.
Andersen erschrak nicht, sondern deutete nur auf seinen nackten Kragen und auf seine offenstehenden Sch u he.
»Man wird Ihnen Ihre Sachen in der Kanzlei aushändigen. Sie müssen sich natürlich der Polizei zur Verfügung halten. Beim geringsten Fluchtversuch lasse ich Sie in Untersuchungshaft stecken!«
»Meine Schwester?«
»Sie ist bei Ihnen zu Hause.«
Der Däne schien trotz allem erleichtert zu sein, als er die Schwelle überschritt, denn er nahm sein Monokel ab und strich sich mit der Hand über das Glasauge.
»Ich danke Ihnen, Kommissar.«
»Keine Ursache.«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich unschuldig bin.«
»Ich verlange nichts dergleichen von Ihnen.«
Andersen verneigte sich und wartete, daß Lucas ihn zur Kanzlei führen würde.
Im Vorzimmer war jemand aufgestanden, hatte diese Szene mit entrüstetem Staunen verfolgt und kam nun auf Maigret zugeeilt.
»Was? Sie lassen ihn frei? Das ist nicht möglich, Kommissar …«
Es war Monsieur Michonnet, der Versicherungsagent und Besitzer des neuen Sechszylinders. Unaufgefordert trat er in das Büro und legte seinen Hut auf einen Tisch.
»Ich komme in erster Linie wegen des Wagens.«
Ein leicht ergrauter, kleiner Mann, der unvorteilhaft gekleidet war und ständig die Spitzen seines gepflegten Schnurrbarts zwirbelte.
Beim Reden spitzte er die Lippen, und er unterstrich seine gewählten Worte mit Gesten, die energisch auss e hen sollten.
Er war der Kläger! Er war derjenige, den die Justiz zu beschützen hatte! War er nicht eine Art Held?
Er ließ sich nicht einschüchtern, er nicht! Das ganze Präsidium war da, um ihn anzuhören.
»Ich habe heute nacht eine lange Unterredung mit Madame Michonnet gehabt, deren Bekanntschaft, hoffe ich, Sie bald machen werden.
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