Mainfall
schaffte er es gut, denn die Stufen waren flach, aber auf halber Höhe wurde es immer steiler. Jede Stufe kostete ihn große Mühe, denn er war sehr klein und musste mehr als seine doppelte Körperhöhe überwinden. Irgendwie hatte ich Mitleid mit ihm, aber ich hatte ihn schließlich nicht gerufen. Das war sein Problem.
»So helfen Sie dem armen Tier doch!«, pöbelte mich eine ältere Dame an, die von oben die Treppen herunterkam. »Der wird es an den Bandscheiben kriegen, wenn Sie ihn diese steilen Treppen steigen lassen. Dackel sind da sehr empfindlich.«
»Das ist gar nicht mein Hund«, verteidigte ich mich.
»Aber ich sehe doch, dass er Ihnen folgt. Natürlich ist das Ihr Hund«, gab die Alte zurück. »Komm her, mein Armer«, sagte sie zu Oskar. »Hast ein böses Herrchen, das dir nicht bei den Treppen hilft. Nun geh, lauf zu ihm, diesem Grobian!«
Und tatsächlich. Der Dackel hatte wohl die Alte verstanden, hüpfte noch zwei Treppenstufen höher und war wieder bei mir. Er bellte freudig und sprang an mir hoch. Ich konnte nicht anders, als ihn zu streicheln, denn gegen so viel Liebe ist man machtlos.
»Na, sehen Sie«, rief die Alte von unten. »Es ist Ihr Hund. Ich habe es doch gleich gewusst.«
Ich nahm Oskar auf den Arm und trug ihn die restlichen Stufen nach oben zum Schloss. Der kleine Rauhaardackel schien schwer außer Atem zu sein, denn ich fühlte, wie sein Herz in meiner Hand pochte, die seine Brust umfasste. Ich spürte die Wärme des kleinen Körpers, merkte, wie er sich an mich kuschelte, wie er seinen Kopf mit den riesigen Schlappohren in die Beuge meines linken Armes legte und die Augen schloss. Ich fragte mich, ob es vielleicht tatsächlich mein Hund war. Ein Halsband hatte er zwar nicht und er sah ziemlich struppig aus, so als ob sein Fell schon lange nicht gebürstet worden war. Aber auch ich war ja ohne Papiere gefunden worden. Vielleicht hatte man ihm, wie mir, alles genommen.
»Du musst jetzt wieder deiner Wege gehen«, sagte ich zu ihm, als wir endlich oben beim Schlossplatz angelangt waren. Ich setzte ihn behutsam auf das Kopfsteinpflaster und ging weiter in Richtung Stadthalle. Doch er folgte mir.
Na warte, dachte ich, dir werde ich es zeigen. Ich eilte quer über den Marktplatz, schritt weit aus, sah mich nicht um, steuerte direkt auf die Tourismus-Information zu, riss dort die Tür auf, huschte hinein und hoffte, dass der Hund mir nicht so schnell folgen konnte. Doch weit gefehlt. Er saß neben mir auf dem Boden und schaute mich mit seinen dunkelbraunen Dackelaugen an.
»Ist der aber süß«, begrüßte mich eine nette junge Dame hinter der Beratungstheke. »Eigentlich dürfen Hunde hier nicht rein, aber der ist ja so lieb. Wie heißt er denn?«
»Oskar«, rutschte es mir heraus, obwohl ich eigentlich hatte sagen wollen: ›Das ist gar nicht mein Hund!‹
»Oskar, ach wie nett. Das passt aber gut zu ihm«, sagte sie und kam hinter der Theke hervor. »Darf ich ihm etwas geben?«
»Ich weiß nicht …«, zögerte ich.
Aber da hatte sie schon eine Scheibe Lyoner in der Hand und warf sie ihm hin. Gierig verschlang er die Wurst und sah die nette blonde Frau bettelnd an, was seine Wirkung nicht verfehlte.
»Wir hatten auch einen Hund, einen Westi, aber vor zwei Monaten mussten wir ihn einschläfern lassen, Unterleibskrebs, ich bin heute noch ganz fertig davon«, erzählte sie und bekam feuchte Augen. Während sie sprach, hatte sie von ihrer Vesper eine zweite Scheibe Lyoner heruntergenommen und war dabei, diese an Oskar zu verfüttern.
»Der wird Sie noch um Ihr Mittagsessen bringen«, scherzte ich.
»Oh, das macht nichts«, sagte sie und zog die dritte Wurstscheibe von ihrem Brötchen ab.
Mir wurde nach und nach klar, dass dieser Oskar nun mein Hund war, den ich nicht so einfach wieder loswerden konnte.
Als ich wenige Augenblicke später wieder auf den Marktplatz trat, fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit meine eigenen Probleme vergessen hatte. Doch jetzt waren sie wieder da, schnürten mir die Kehle zu, krochen mir kalt den Rücken hinauf, erinnerten mich an meine Unterwäsche, die nach Main roch, an meinen ruinierten Anzug, an meine immer noch feuchten Lederschuhe, an meinen hungrigen Magen, an meine Bartstoppeln im Gesicht und an meinen Namen, den ich nicht mehr wusste und den ich auch vom Main nicht erfahren hatte. Wohin jetzt? Was sollte ich tun? Mein Geld würde schnell zu Ende sein, und was käme danach?
Zum Glück schien die Sonne über den Platz. Ich genoss
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