Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
Zigarette meines Vaters, sein Rasierwasser, sein öliger Blaumann in der ledernen Arbeitstasche neben der Tür. Diese einzigartige Melange ist es, die mir beweist, was ich eigentlich längst weiß, aber in seiner ganzen Unglaublichkeit erst jetzt erfasse.
1985!
Ohne meine Eltern wird dieses Haus nie mehr so riechen. Selbst das Geräusch der Besteckschublade ist mir vertraut. Beim Öffnen und Schließen ist eine Unregelmäßigkeit in der Führung, die das Besteck einen geräuschvollen Hüpfer machen lässt. Meine Mutter serviert mir ein Schnitzel mit Kartoffelpüree und Salat.
„ Und? Tiere gesehen?“, fragt sie.
„ Ich war im Zoo!“, erwidere ich schulterzuckend. Was soll ich denn sonst gesehen haben? Dass ihnen das Wunder dieses Augenblickes nicht bewusst ist, frustriert mich. Wo ist eigentlich mein Bruder?
„ Wo ist Paul?“, frage ich.
Meine Eltern tauschen einen skeptischen Blick aus.
„ Bei der Bundeswehr“, lacht meine Mutter.
Ich lache auch, damit sie denkt, ich hätte einen Witz machen wollen. Mein Vater leert seinen Kaffee in einem Zug, drückt seine Zigarette aus und steht auf. Er ist kleiner als in meiner Erinnerung.
„ So“, sagt er, und geht aus der Küche.
Damit wäre wohl alles gesagt, denke ich. Meine Mutter seufzt, stützt das Kinn auf die Faust und schaut in den Garten.
„ Habt ihr Streit“, will ich wissen. Sie schaut überrascht auf.
„ Wie kommst du da drauf? Du weißt doch, dass dein Vater nicht viel spricht.“ Sie steht auf, dreht mir den Rücken zu und lässt Wasser in die Spüle laufen.
Weiß ich das
, frage ich mich?
Mein Vater ist eine Seele von Mensch, aber kein großer Redner. Wie viele Nachkriegskinder ist auch er in einer Zeit großer Entbehrungen aufgewachsen. Nach dem frühen Tod seines Vaters, meines Großvaters, den ich nie kennengelernt habe, musste er schon im zarten Alter von vierzehn Jahren die Rolle des Ernährers für seine Mutter und seine beiden jüngeren Geschwister übernehmen. Das prägt. Mein Vater ist der fleißigste und pflichtbewussteste Mensch, den ich kenne. Nach einem Sportunfall fuhr er sogar mal mit einer unbehandelten gebrochenen Schulter zur Arbeit. „Kommt von allein, geht von allein“, ist seine Devise bei Krankheit und Schmerz. Bis heute arbeitet er als Schlosser in dem Betrieb, wo er schon als Lehrling auf Holzkisten stand, um an die Bedienfelder der großen Maschinen zu gelangen. Es ist ihm, solange ich denken kann, unmöglich, sich von dieser Ernährerrolle zu lösen. Er hat meiner Mutter verboten, durch eine Nebentätigkeit ihren Beitrag zur Finanzierung des Haushaltes zu leisten. Später verstand ich, dass dies meinen Vater in der Legitimation seiner Existenz bedroht hätte. Meine Mutter war die Hausfrau, die sich nebenbei um die Erziehung und die emotionalen Angelegenheiten der Kinder zu kümmern hatte. Damit hatte mein Vater überhaupt nichts am Hut. Bis heute habe ich nicht verstanden, warum eigentlich nicht.
Ich esse auf und verlasse die Küche. Aus meinem Schrank fische ich ein T-Shirt mit einem Anker auf der Brust.
Meinen Vater treffe ich im Wohnzimmer wieder. Er streckt die Beine aus, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick ist schläfrig. Ich setze mich zu ihm ans andere Ende des braunen Sofas. Die Fische im Aquarium ziehen stumm ihre Runden.
Der Fernseher hat ein silberfarbenes Kunststoffgehäuse und Sensortasten. Ich erinnere mich, das die Berührung eines Fliegenbeins genügt, um den Kanal zu wechseln. Ilona Christen moderiert die
Tele-Illustrierte
. Auch schon tot, fällt mir ein. Ich höre ihr nicht richtig zu, betrachte meinen Vater im Profil, als das Wort
Konzert
mich aufhorchen lässt. Ich suche nach der Fernbedienung, die wir nicht haben, gehe zum Fernseher und stelle lauter.
„ Es soll das größte Konzert aller Zeiten werden. Ein Konzert, das den Hunger in Afrika beendet. Viele der namhaftesten Künstler unserer Zeit haben sich zusammengetan, um mit einem gewaltigen Spektakel parallel auf zwei Kontinenten auf die furchtbare Hungerkatastrophe aufmerksam zu machen, von der in Äthiopien aktuell schätzungsweise acht Millionen Menschen betroffen sind. Aus London berichtet unser Korrespondent Ruprecht Esser.“ Blende. Ein Mann steht vor der Tower Bridge. Er trägt ein kleinkariertes Sakko, sein Haar ist stramm gescheitelt.
„ Es ist eine beachtliche organisatorische Leistung, die Bob Geldof, Initiator des Konzertes
gegen den Hunger
, zusammen mit seinen Mitarbeitern in wenigen Monaten gestemmt
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