Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
sein:
„ Wovor haben Sie Angst?“
„ Meine Mutter sagt immer, man kann den Leuten nur vor den Kopf gucken.“ Er macht eine abwehrende Handbewegung. „Was spielt das für eine Rolle?“
„ Ich würde es gern herausfinden“, gesteht Braun.
„ Warum bin ich wohl zurückgekehrt? Warum?“ Nori spricht laut, brüllte fast. Der Zorn in seiner Stimme ist unüberhörbar.
„ Sagen Sie es mir!“, fordert Braun.
Die Leuchtstoffröhrenstarter klicken. Kaltes Licht erhellt den Raum. Nori steht auf, starrt an die Decke:
„ Denken Sie nur an die vielen Föhnfrisuren. Das ganze Haarspray. Ich wette, die brannten wie lebende Fackeln.“ Er lacht bitter. „Mitten im großen Finale.
Feed the world
– Bumm – steht alles in Flammen. Und sie waren alle da. George Martin, Bono Vox, David Bowie, Nick Rhodes, Paul Young, Midge Ure. Alle! Niemand, der auf der Bühne stand, hat es geschafft. Holzkohlen! Bei der Panik im Stadion sind Zigtausende totgetrampelt wurden. Minuten später die gleiche Scheiße in Philadelphia.“
„ Fühlen Sie sich dafür verantwortlich?“
„ Sie haben ja überhaupt keine Ahnung. In diesen wenigen Stunden bin ich ein Teil eines wundervollen, großen Ganzen.“
„ Bin?“
„ Hätte ich das Ganze doch im Fernsehen verfolgt, wie Millionen andere auch. Milliarden. Meine Mutter hätte bestimmt Käsepicker gemacht.“
„ Sie sahen es nicht im Fernsehen?“
„ Auf Video. Unzählige Male. Es ist so wundervoll, wenn die britische Hymne gespielt wird, die Königsfamilie Einzug hält. Mittendrin Bob Geldof. In Jeans.“
„ Ich verstehe Ihre Trauer. Aber das Konzert hätte geendet. Jedes Konzert endet.“
„ Es war nicht das Ende des Konzertes. Es war das Ende meiner Kindheit, das mich zurückkommen ließ. Denken Sie doch nur an all die wundervolle Musik, die nie gemacht wurde. Wo sind die Songs, die nie jemand schrieb? Es gibt Tage, Doc, da glaube ich, die Leere nicht mehr ertragen zu können. Was blieb, war von allem nur das Zweitbeste. Die ganze Welt ist voller B-Seiten. Ich glaube sogar, viele hätten es nicht mal aufs Album geschafft. Und wenn doch mal ein Hit dabei ist, der das Zeug zum Klassiker hat, merkt es niemand. Weil niemand richtig hinhört.“
„ Wenn ich nicht wüsste, dass Sie von Musik sprechen, ich würde glauben, Sie sprechen über Menschen“, merkt Braun an.
Nori lacht. Doch dann bricht seine Stimme. Seine Augen werden glasig. Er weint, versteckt die Tränen in seiner Armbeuge.
„ Ich war doch nur ein Kind.“
Braun schweigt, wartet ab.
„ Ich wollte doch nicht, dass er stirbt.“
„ Wer ist gestorben?“, fragt Braun.
Nori hebt den Blick.
„ Ich wollte dabei sein. Verstehen Sie? Ich nahm den Wagen meines Bruders, um nach London zu fahren. Es war der Freitag. Er wollte mich suchen. Mein Vater! Er hätte sich nie betrunken ans Steuer gesetzt. Aber er wollte mich doch suchen. Es gab einen Unfall. Papa verbrannte in seinem Wagen!“
Mein Vater ist noch nicht zurück. Meine Mutter und ich essen nicht mehr ganz frisches Weißbrot mit Wurst, die den Namen
Aufschnitt
noch verdient. Kein Formfleisch in Plastik. Und endlich gelingt es mir, ein richtiges Gespräch mit ihr zu führen. Ich fang an, berichte von der geplanten Fete am Freitag. Sie lächelt und sagt, dass sie das schön findet. Sie selbst hatte nie die Gelegenheit dazu, als sie so alt war wie ich. Aber allzu spät sollte es nicht werden. Das solle ich mir aufheben, bis ich älter bin. Ich grinse. Bei meiner Mutter muss immer alles steigerungsfähig bleiben. Warum, weiß ich nicht. Ich lege mir noch eine Scheibe Wurst aufs Brot. Nicht weil ich Hunger habe. Ich will, dass das Abendessen noch nicht endet. Sie erzählt mir von den Eheproblemen eines befreundeten Ehepaars, mit denen meine Eltern seit vielen Jahren im Kegelklub sind. Ich erzähle von meiner Tanzeinlage im Zoo, und sie kann es kaum glauben. Ich gerade auch nicht mehr. Wir lachen so laut, dass ich die goldenen Füllungen in ihren Backenzähnen sehen kann. Und endlich erkenne ich sie wieder, die Frau, an die ich mich später erinnern werde, wenn alles den Bach runter gegangen ist.
„ Warst du schon mal in England?“, wechsle ich das Thema.
„ Da versteht mich doch keiner“, sagt sie. „Ich würde so gerne Englisch lernen.“
Mach doch, denke ich.
„ Wie lange man wohl mit dem Zug dahin braucht?“, sinniere ich laut.
„ Das weiß ich nicht. Dein Vater fährt nicht gerne Zug.“
„ Erstmal muss man ja nach Calais“, plappere
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