Malibu wartet auf dich
1. KAPITEL
"Bist du meine Mutter?"
Sarah blickte von dem halb fertigen Bild auf, das den Küstenabschnitt zeigte, an dem sie stand. Sie wollte gerade höflich, aber entschieden verneinen, als ihr Blick auf ihr blasses Gegenüber fiel. Der Junge mochte vielleicht fünfzehn oder sechzehn sein. Er trug helle Jeans, ein weites T-Shirt und einen grauen Pullover, den er wegen der Hitze um die Hüften geknotet hatte. Das dichte blonde Haar war kurz geschnitten, helle, fast weiße Strähnen zeigten, dass er viele Stunden in der Sonne verbrachte. Und er hatte grüne Augen, Garrett Kinghams Augen.
Sarah hatte Brian - und es konnte sich nur um Brian handeln -
zuletzt als Fünfjährigen gesehen. Ein Junge mit besorgt blickenden grünen Augen, der zutiefst verstört über die Streitigkeiten zwischen seinen Eltern gewesen war. Inzwischen war er zu einem gut aussehenden Teenager herangewachsen, vielleicht noch ein bisschen ungelenk, aber das würde sich in den nächsten Jahren legen. Eines Tages würde er genauso breitschultrig und muskulös sein wie sein Vater, davon war Sarah überzeugt.
Garrett Kingham ... Sie erinnerte sich noch immer an ihre letzte Begegnung mit ihm und an seinen Gesichtsausdruck.
Grenzenlose Verachtung hatte sich auf seinen Zügen widergespiegelt, als sie sich schreiend auf ihn gestürzt, ihn getreten, gekratzt und mit den Fäusten gegen seine Brust getrommelt hatte, weil er beschlossen hatte, Brian mitzunehmen.
Und nun war Brian zurückgekommen. Sarah konnte es kaum fassen.
"Entschuldigung." Das zerknirschte Lächeln ließ ihn plötzlich sehr jung wirken. "Sie könnten gar nicht meine Mutter sein. Sie ist tot, und Sie sind viel zu jung, um meine Mutter zu sein. Ich ...
Sie sehen ihr nur so ähnlich, dass ich sofort an sie denken musste", fügte er verlegen hinzu.
"Brian..."
"Sie kennen meinen Namen?" Misstrauisch blickte er sie an.
"Wer sind Sie?"
Sarah legte den Pinsel beiseite und griff nach einem mit Farbflecken übersäten Lappen, um sich die Hände abzuwischen.
"Wen suchst du denn?" fragte sie sanft.
"Meinen Großvater und ... Du musst meine Tante Sarah sein!" rief er erleichtert. "Einen Moment lang glaubte ich, einen Geist vor mir zu haben."
Amanda wäre dann bereits seit zehn Jahren ein Geist. So lange war ihre Schwester nämlich schon tot. Eigentlich war die Ähnlichkeit zwischen Sarah und Amanda nur oberflächlich.
Beide hatten dichtes schwarzes Haar, dunkelblaue Augen und eine zierliche Figur, aber ihre Gesichter ähnelten einander nur entfernt. Brian war allerdings erst fünf Jahre gewesen, als seine Mutter starb, und vielleicht waren die Gemeinsamkeiten inzwischen ausgeprägter als damals.
Sie lächelte ihren Neffen an und stand auf. "Ja, ich bin deine Tante Sarah", bestätigte sie. "Warst du schon im Cottage? Dein Großvater wird sich freuen, dich zu sehen."
Ein wenig unbehaglich schüttelte Brian den Kopf. "Dort ist niemand."
"Er sagte vorhin, er wolle in den Ort gehen, um Tabak zu kaufen", erwiderte sie tröstend. "Warum hast du uns nicht über dein Kommen informiert? Weiß dein Vater, dass du hier bist?"
erkundigte sie sich besorgt.
Garrett Kingham hatte die Familie seiner Frau nicht unbedingt in sein Herz geschlossen gehabt, und Sarah hatte keinen Grund zu der Annahme, dass sich daran etwas geändert haben könnte.
Statt zu antworten, schob Brian die Hände in die
Gesäßtaschen seiner Jeans und wandte sich dem Meer zu. "Kann man hier surfen?" Stirnrunzelnd betrachtete er die flache Brandung.
"Du meinst Wellenreiten? Nein." Sie lachte bedauernd. "Hier ist nur Windsurfen angesagt."
Er drehte sich wieder zu ihr um. "Ist es in dieser Gegend immer so windig?"
"Die englische Ostküste ist dafür berühmt", erklärte sie ironisch. "Brian..."
"Meinst du, mein Großva ter ist wieder zurück?" unterbrach er sie. "Ich würde ihn wirklich gern sehen."
"Er wird dich auch sehen wollen." Rasch packte sie ihre Sachen ein. "Trotzdem musst du mir sagen, ob dein Vater weiß, dass du uns besuchst", beharrte sie.
Ein trotziger Ausdruc k erschien auf dem jugendlichen Gesicht. "Ich bin sechzehn ..."
"Erst nächsten Monat", erinnerte Sarah in sanft.
Garrett Kingham hatte offenbar nicht die leiseste Ahnung vom Aufenthaltsort seines Sohnes. Und so, wie sie ihn kannte, würde er nicht gerade begeistert sein, wenn er hörte, wo Brian war.
"Ich bin alt genug, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen", behauptete Brian mürrisch.
Sosehr es sie auch interessiert hätte zu erfahren,
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